Mehrheit geht früher in Rente
Von David Maiwald
Die Haushalts- und Aufrüstungsplanung der Bundesrepublik geht in die entscheidende Woche. Die Entwürfe, Beratungen und Kabinettsdebatten wurden von einer Kampagne gegen den Sozialstaat begleitet, die kaum einen Bereich der Systeme für soziale Sicherung hierzulande ausgelassen hat. Während Bundeskanzler Friedrich Merz weiterhin der Meinung ist, bei den Armen noch kürzen zu können, wollen andere bei Ruheständlern »sparen« – indem sie länger arbeiten sollen.
So hatte der Unionsfraktionsvize Matthias Middelberg vor rund einem Monat »schmerzliche Reformen« – gemeint war ein späteres Renteneintrittsalter – für unausweichlich erklärt. Auch CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann will länger schuften lassen und erneuerte, wo man ihn danach fragte, regelmäßig die seit Jahren vorgetragene Position seiner Partei, dass das Renteneintrittsalter an die Lebenserwartung zu koppeln sei und Menschen auch bis ins Alter von 70 Jahren arbeiten sollten. Nun steht seine Idee einer »Aktivrente« im Koalitionspapier der Bundesregierung, die vor allem Besserverdienende bevorzugen soll, wenn sie über das Renteneintrittsalter hinaus erwerbstätig sind.
Doch soweit kommen viele gar nicht. Nach Zahlen der Deutschen Rentenversicherung (DRV) erreichen rund 60 Prozent der Ruheständler die Altersgrenze schon jetzt nicht. Diese gingen mit teils erheblichen Abschlägen in die Altersruhe, hatte die Berliner Zeitung am Mittwoch von der DRV erfahren. Rund 559.000 Menschen beendeten ihr Arbeitsleben demnach im Jahr 2024 vorzeitig. Davon waren den Angaben zufolge 225.200 »langjährig Versicherte«, also womöglich Personen mit mindestens 35 Versicherungsjahren, die ab 63 Jahren Rente beziehen können. Für sie bedeutet die vorgezogene Rente einen Abzug von 0,3 Prozentpunkten der Bezüge für jeden Monat bis zum gesetzlichen Eintrittsalter.
In ihrem Jahresbericht hatte die DRV den Altersdurchschnitt bei Rentenbeginn mit 64,7 Jahren angegeben. Im Jahr 2000 lag das Renteneintrittsalter noch bei 62,3 Jahren. Während das Renteneintrittsalter in den vergangenen 24 Jahren also um durchschnittlich 2,4 Jahre zugenommen hat, stieg die Lebenserwartung der Menschen im selben Zeitraum um nur rund sechs Monate. So lag das erwartbare Durchschnittsalter dem Statistischen Bundesamt zufolge bei Frauen im Jahr 2000 noch bei 83,4 Jahren, bei Männern bei 78,5 Jahren. 2024 waren es bei Frauen 83,7 Jahre, bei Männern 79.
Häufig seien es Menschen mit geringem Einkommen, die gezwungen sind, vorzeitig in Rente zu gehen, erklärte Sarah Vollath, rentenpolitische Sprecherin der Linke-Fraktion im Bundestag, auf jW-Anfrage. »Einfach, weil sie es körperlich nicht mehr schaffen.« Jene, »die ihr ganzes Leben lang hart gearbeitet haben«, würden schon jetzt überdurchschnittlich oft überhaupt keine Altersbezüge erhalten, »weil sie vor dem Beginn des Rentenalters sterben«. Um früher in Rente zu gehen, würden viele daher Abschläge in Kauf nehmen, so Vollath. Pläne, das Rentenalter weiter anzuheben, gingen daher »völlig an der Lebensrealität der meisten Menschen in Deutschland vorbei«. Auch eine Anhebung des Renteneintrittsalters sei als nichts anderes »als eine verschleierte Rentenkürzung« zu verstehen.
Insgesamt bezogen im vergangenen Jahr rund 937.000 Ruheständler erstmals Rente. Davon müssten 28 Prozent künftig mit Abschlägen leben, teilte die DRV am Freitag auf jW-Anfrage mit und bestätigte die Angaben der Berliner Zeitung. Auch rund 64.900 schwerbehinderte Menschen gingen 2024 demnach mit und ohne Abschläge in Altersrente. Informationen, wie viele schwerbehinderte Menschen mit und ohne Abschlägen Rentenbezüge erhielten, lägen »kurzfristig nicht vor«, hieß es weiter. So auch angefragte Informationen zu Berufsgruppen und Einkommensverhältnissen der Ruheständler. Aus welchen Gründen Menschen früher in Rente gehen und Abschläge in Kauf nehmen, wird von der DRV nicht ermittelt.
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