»Es geht um imperialistische Ansprüche«
Interview: Marc Bebenroth
Regionale, überregionale und lokale linke Gruppen sowie Parteien protestieren in dieser Woche unter dem Motto »Bodensee entwaffnen« gegen Krieg und Rüstungsindustrie. Wie lange wird es dauern, den gesamten Bodensee zu entmilitarisieren?
Das kommt darauf an, ob die Entmilitarisierung vom Staat ausgeht oder von den Menschen, die hier wohnen.
Wo ist der Unterschied?
Die Mobilisierung der Menschen, die tatsächlich antimilitaristisch denken und antimilitaristisch handeln wollen, wäre ein Kraftakt, der wahrscheinlich sehr lange dauern würde. Wenn das aber vom Staat ausgeht, was leider sehr utopisch ist in einer kapitalistischen Gesellschaft, könnte das relativ schnell funktionieren.
Es handelt sich offenbar um die dichteste Rüstungsregion Europas mit rund 40 Produktions- und Zulieferbetrieben. Was wird dort hergestellt?
Quasi alles: von Funktechnik für die Bundeswehr bis hin zu Motoren für Panzer, Teile für Kampfjets bis hin zu ziemlich kleinen Unternehmen, die auch in wirklich kleinen Städten sitzen und nur IT machen. Es gibt jetzt auch kleinere Startups, die Drohnen bauen – nicht nur fürs deutsche Militär. Und eine Firma hat Grenzzäune für Gefangenenlager in Saudi-Arabien gebaut. Außerdem ein »Sportwaffen«-Produzent, der auch ans russische Militär geliefert hat.
Was antworten Sie denen, die auf die Arbeitsplätze in diesen Firmen verweisen?
Das kommt häufiger als man denkt. Die klare Antwort muss sein: Die Aktionen und der Groll, den wir hegen, richtet sich gegen die Firmen und nicht gegen die, die dort arbeiten. Wir leben immer noch in einem kapitalistischen System, und Menschen müssen irgendwie Geld verdienen, um Miete, Essen und so weiter zu bezahlen. Die Firmen könnten auch für zivile Zwecke produzieren. Die meisten Menschen verstehen, dass die Rüstungsbetriebe nichts Gutes sind. Zweitens stellen wir eine Sensibilisierung auch dafür fest, dass wir durch Fabriken, die Panzerteile herstellen, auch eine große Zielscheibe sind.
Zur Aktionswoche gehören auch Abende zu Themen wie »Kriegsindustrie im Allgäu«. Was können Sie darüber sagen?
Insgesamt gibt es im Allgäu mehr als 50 Firmen, die für oder mit dem Militär arbeiten. Das kann auch IT-Support sein oder das Training von Kampfpiloten im Simulator. Viele Informationen basieren auf Gesprächen mit Menschen, die zufällig jemand kannten, der oder die dann dort gearbeitet hat. Die meisten Firmen machen nämlich nicht Werbung damit, dass sie am Krieg mitverdienen.
Für diesen Sonnabend ist eine Großdemonstration in Friedrichshafen geplant, um gegen die Kriegsindustrie und »den daraus folgenden Rattenschwanz« zu protestieren. Was ist damit gemeint?
In Friedrichshafen gibt es die beiden großen Rüstungsunternehmen ZF Friedrichshafen und MTU Aero Engines. Die Bundesregierung und viele westliche Politiker reden davon, richtig aufrüsten zu müssen, damit wir uns verteidigen können. Aber das ist kompletter Schwachsinn. Es geht in Wirklichkeit darum, dass Deutschland, die NATO und der Westen in den nächsten Jahren ihre imperialistischen Ansprüche geltend machen wollen.
Bei den Aktionen wird schnell klar, dass Ihnen sehr wichtig ist, immer wieder auf den Genozid in Gaza hinzuweisen.
Seit Jahren wird auf Demonstrationen »Nie wieder!« geschrien – und dann ist Deutschland Mittäter am großen Genozid unserer Generation. Deutschland liefert aktiv das Material, mit dem in Gaza Menschen ermordet werden. Auch am Bodensee werden Teile dafür produziert. Wie kann man da schweigen!?
Wenn man sich zu diesem Thema so äußert, kommen unweigerlich Leute, die von »Antisemitismus« reden. Wie oft begegnet Ihnen dieser Vorwurf?
Sehr selten und von wirklich sehr obskuren Personen. Wir haben das Glück, dass quasi die ganze linke Szene bei uns hier in der Region klar antiimperialistisch ist und wir quasi keine antideutschen Gruppen haben.
Gibt es Dinge, die Sie für die künftige Arbeit lernen konnten?
Der stärker beachtete Aspekt dieser Aktionswoche ist für mich die Vernetzung. Wir waren in den vergangenen Monaten im Austausch mit Gruppen aus dem Allgäu, aus Konstanz, auch aus Ulm. Gerade hier in der ländlichen Region müssen wir das verstärken. Nur gemeinsam können wir etwas Großes auf die Beine stellen.
Tim Leidig ist aktiv in der Gruppe »Jugend kämpft«, die die Aktionswoche »Bodensee entwaffnen« organisiert
Demo: Sa., 6.9., ab 14 Uhr an der Musikmuschel, Friedrichshafen
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