Agenda 2010 lässt grüßen
Von Philip Tassev
Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) will den Sozialstaat zurückfahren, da »wir« ihn uns »in dieser Form nicht mehr leisten können«. Konkret fordert er Kürzungen von zehn Prozent beim »Bürgergeld«. Arbeitsministerin Bärbel Bas (SPD) bezeichnete die Debatte um die Sozialsysteme dagegen als »Bullshit«. Ob sich die Sozialdemokraten jedoch den Kürzungsplänen der Union konsequent widersetzen werden, ist fraglich. Denn schon im Vorfeld des für Mittwoch abend geplanten Treffens des Koalitionsausschusses hat sich SPD-Chef und Finanzminister Lars Klingbeil faktisch für eine Neuauflage der Agenda 2010 des damaligen Kanzlers Gerhard Schröder ausgesprochen. »Schröder hat mutige Reformen angepackt«, sagte Klingbeil der Wochenzeitung Die Zeit. »Auch heute brauchen wir umfassende Reformen, damit unser Sozialstaat stark bleibt, bezahlbar ist und besser funktioniert.« Allerdings müssten diese Reformen »in unsere Zeit passen« und dürften die gesellschaftlichen »Gräben nicht vertiefen«. Entscheidend sei, so Klingbeil, dass es »am Ende gerecht zugeht und alle ihren Teil zum Reformpaket beitragen«.
Die Älteren erinnern sich noch gut an die Verheerungen, die die neoliberale Agenda 2010 ab 2003 angerichtet hat – und an die schweren Schäden, die sie auch der SPD selbst zufügte und von denen sich die einstige »Volkspartei« bis heute nicht erholt hat. Jüngeren, die diese Phase nicht miterlebt haben, oder jenen, die sie frustriert verdrängt haben, sei in Erinnerung gerufen, welche zentralen Angriffe auf die Arbeiterklasse damals umgesetzt wurden: die Einführung der »Hartz«-Gesetze samt Förderung von Leiharbeit, Mini- und Midijobs, wodurch Europas größter Niedriglohnsektor entstand; die stärkere zeitliche Begrenzung des Arbeitslosengeldes I; die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II, flankiert von strengeren »Zumutbarkeitsregeln« und harten Sanktionen; sowie die Erhöhung der Mehrwertsteuer.
Parallel dazu gab es für Unternehmer und die Reichen großzügige Geschenke: Senkung der Einkommens- und Unternehmenssteuern, Aussetzung der Vermögenssteuer und zahlreiche Schlupflöcher für Erben großer Vermögen. Diese »Reformen« steigerten zweifellos die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie auf dem Weltmarkt, führten aber zugleich zu einem drastischen Kaufkraftverlust großer Teile der Bevölkerung. Solange die deutschen Konzerne ihre Produkte im Ausland absetzen konnten, fiel das kaum ins Gewicht. Nun aber ist dieses »Erfolgsmodell« ins Wanken geraten – und die Regierung sucht verzweifelt nach einem Ausweg aus der selbst verschuldeten Krise.
Nach Informationen der Bild (Mittwoch) liegt bereits ein Maßnahmenpapier mit dem Titel »Deutschland voranbringen« vor, das dem Koalitionsausschuss zur Abstimmung vorgelegt werden sollte. Dem Blatt, das aus dem Kanzleramt üblicherweise gut mit Informationen versorgt wird, zufolge enthält es folgende Punkte: Förderung der Automobilindustrie, beschleunigter Infrastrukturausbau, eine neue »Kraftwerksstrategie«, eine »Offensive« zum Bau von Rechenzentren für künstliche Intelligenz und – im Bereich »innere Sicherheit« – die seit Jahrzehnten von Polizeilobby und Überwachungsbefürwortern geforderte Vorratsdatenspeicherung.
Ziel sei es, so Kanzleramtschef Thorsten Frei (CDU) gegenüber der Rheinischen Post, mit diesen Maßnahmen »unser Land in Schwung zu bringen«. Die »Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit« müsse »oberste Priorität« haben. »Wir müssen die Fesseln lösen, um Deutschland voranzubringen.«
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