Pruzzische Elegie
Von Ronald Weber
Sein literarisches Programm hat Johannes Bobrowski zu Beginn der 60er Jahre sehr deutlich formuliert: »Zu schreiben begonnen habe ich am Ilmensee 1941, über russische Landschaft, aber als Fremder, als Deutscher. Daraus ist ein Thema geworden, ungefähr: die Deutschen und der europäische Osten. Weil ich um die Memel herum aufgewachsen bin, wo Polen, Litauer, Russen, Deutsche miteinander lebten, unter ihnen allen die Judenheit. Eine lange Geschichte aus Unglück und Verschuldung seit den Tagen des Deutschen Ordens, die meinem Volk zu Buche steht. Wohl nicht zu tilgen und zu sühnen, aber eine Hoffnung wert und einen redlichen Versuch in deutschen Gedichten.«
Diese Gedichte, angelehnt an die Oden Klopstocks und die »Jahreszeiten«-Lieder des litauischen Pfarrers und Dichters Kristijonas Donelaitis, stehen bis heute solitär in der deutschen Nachkriegsliteratur. Sie schlagen einen Bogen vom 18. Jahrhundert bis in die grausame Zeit des deutschen Vernichtungskriegs, an dem Bobrowski als Soldat teilnahm. In einer bildgewaltigen, oft dunklen Sprache, einem ganz eigenen Sound, ostpreußisch gefärbt, zwischen bäuerlicher Rede und den gelehrten Ausdrucksweisen Hamanns und Herders, zwei Säulenheilige des Dichters, wechselnd.
Eine Kostprobe aus der »Pruzzischen Elegie« aus der 1961 erschienenen Sammlung »Sarmatische Zeit«: »Dir / ein Lied zu singen, / hell von zorniger Liebe – / dunkel aber, von Klage / bitter, wie Wiesenkräuter / nass, wie am Küstenhang die / kahlen Kiefern, ächzend / unter dem falben Frühwind, / brennend vor Abend – // deinen nie besungenen / Untergang, der uns ins Blut schlug«.
Bobrowski, geboren 1917, wuchs in Tilsit (heute Sowetsk) auf, zog als Schüler mit den Eltern – der Vater war Eisenbahnbeamter – nach Graudenz (heute: Grudziądz) an der Weichsel, nach Rastenburg (heute Kętrzyn) in Masuren, schließlich nach Königsberg (heute Kaliningrad), wo er das humanistische Gymnasium besuchte. Die Sommer verbrachte der junge Bobrowski im Litauischen auf dem Land bei den Großeltern unweit von Tilsit auf der anderen Seite der Memel.
Die Stationen geben die Geographie seines Werks, die Geschichten, aus denen er schöpfte, »um meinen deutschen Landsleuten etwas zu erzählen, was sie nicht wissen«. Geschichten aus einer untergegangenen Zeit, deren Konflikte wie ein Vorschein auf die Schoah hindeuten. So auch in dem 1964 erschienenen Roman »Levins Mühle. 34 Sätze über meinen Großvater«, in dem ein allwissender Erzähler von einem Rechtsstreit zwischen einem Juden und einem Deutschen berichtet; ein Modellfall, in dem der Jude unterliegt und der doch mit einem entschiedenen »Nein«, dem antisemitischen Großvater ins Gesicht gesprochen, endet.
In Königsberg war der im christlichen Glauben erzogene Bobrowski mit der Bekennenden Kirche in Kontakt gekommen. Dieser hielt auch, nachdem die Familie 1938 nach Berlin-Friedrichshagen übergesiedelt war, wo Bobrowski 1941 ein Semester Kunstgeschichte studierte. Ein weiteres wurde ihm verweigert, weil der Student kein Mitglied der NSDAP werden mochte. In sowjetischer Kriegsgefangenschaft bei Rostow am Don, wo Bobrowski Zwangsarbeit als Kohlenhäuer leisten musste, besuchte er die Antifaschule. 1949 kehrte er zurück nach Ostberlin und arbeitete fortan als Lektor, zunächst im Altberliner Verlag, schließlich als Cheflektor des Union-Verlags. Als er am 2. September 1965, gänzlich unerwartet, infolge eines Blinddarmdurchbruchs starb, hatte er mit dem Preis der Gruppe 47 und dem Heinrich-Mann-Preis in West wie Ost Anerkennung erfahren. Posthum erschienen ein weiterer Roman (»Litauische Claviere«) und Erzählungen.
Ob der Christ Bobrowski – dessen Texte so gar keinen Geschmack von Bitterfeld und kein Aufbaupathos verraten – überhaupt zur DDR-Literatur zu zählen sei, ist oft gefragt worden. Eine Randerscheinung war er in der DDR gewiss – nicht weniger aber im Westen, wo der Antifaschismus als kommunistische Ideologie galt. Ihn aus tiefster persönlicher Betroffenheit in einer sehr eigenwilligen Weise fruchtbar gemacht zu haben, ist sein bleibendes Verdienst und sorgt für eine Rezeption, die seit 60 Jahren ungebrochen ist.
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