Zwischen den Fronten
Von Elias Korte, Bogotá
Nach vier Tagen in der Hand von Dorfbewohnern sind 33 kolumbianische Soldaten am Donnerstag im Departamento Guaviare freigekommen. Die Freilassung kam zustande, nachdem die kolumbianische Ombudsstelle für Menschenrechte (Defensoría del Pueblo), die UN-Mission im Land und die Beobachtermission der Organisation Amerikanischer Staaten (MAPP-OEA) zwischen Armee und Dorfbevölkerung vermittelt hatten.
Seit dem 24. August hatten rund 600 Einwohner die Militärs umzingelt und am Fortkommen gehindert. Offiziell begründeten sie ihr Vorgehen mit der Forderung nach Herausgabe des Leichnams von einem Ladenbesitzer, der nach Angaben der Bevölkerung bei Kämpfen zwischen Armee und Guerillakämpfern ums Leben gekommen war. Die Behörden sehen dagegen die FARC-Dissidenten des Estado Mayor Central (EMC) unter »Iván Mordisco« als Drahtzieher: Die Gemeinde sei instrumentalisiert worden, um Armeeeinsätze zu blockieren.
Verteidigungsminister Pedro Sánchez zeigte sich erleichtert über die Freilassung, kündigte aber harte Konsequenzen an. Gegen die Zivilisten, die die Soldaten festgehalten hatten, stellte er Strafanzeige wegen Entführung, Aufruhr und Behinderung von Staatsbediensteten. Zudem setzte er eine Belohnung von bis zu 20 Millionen Pesos für Hinweise auf die Verantwortlichen aus. Zugleich versprach er, die Einsätze gegen die Strukturen von Mordisco und Calarcá Córdoba in der Region zu intensivieren. Sánchez bezeichnete die Festsetzung als »erpresserische Entführung« und sogar als »Kriegsverbrechen«. Die Ombudsstelle mahnte hingegen, die Gemeinde nicht pauschal zu stigmatisieren – die Bevölkerung sei von den bewaffneten Gruppen in eine Zwangslage gebracht worden.
Der jüngste Fall in Guaviare ist kein Einzelfall, sondern reiht sich in eine Kette ähnlicher Ereignisse ein. Im Oktober 2024 blockierten Bauern in El Plateado (Cauca) während der Operation Perseo rund 60 Militärs. Im April 2025 wurden in San José del Guaviare nach einem Angriff der FARC-Dissidenz um »Calarcá« mehrere Soldaten kurzzeitig festgehalten, nur Tage später hielten Dorfbewohner in Nariño acht Militärs zurück. Und im Juli kam es im Valle del Cauca zur Blockade von über 150 Soldaten durch die Bevölkerung. Dies zeigt: Die Präsenz der Armee stößt in vielen Regionen nicht auf Wohlwollen, sondern auf offenen Widerstand – eine Reaktion auf militärische Großoperationen, die Dörfer in Mitleidenschaft ziehen, ohne den versprochenen Schutz zu bringen.
Der Guaviare ist heute ein Kerngebiet des internen Krieges der Guerillakämpfer. Während der EMC unter Mordisco dort eine seiner Rückzugsbasen verteidigt, kämpft die Fraktion um Calarcá Córdoba um denselben Zugang zu Kokafeldern, Schmuggelrouten und illegaler Abholzung. Der Tod von EMC-Kader »Dumar« bei einem Armeeeinsatz kurz vor der Festsetzung der 33 Soldaten verschärfte die Spannungen zusätzlich. Für die Zivilbevölkerung bedeutet das vor allem mehr Unsicherheit – sie befinden sich zwischen den Fronten von Armee, EMC und konkurrierenden Gruppen.
Die Regierung von Gustavo Petro wollte mit dem von ihr ausgerufenen Projekt des »paz total« (totaler Frieden, jW) einen Bruch mit der seit Jahrzehnten anhaltenden, sich immer wieder transformierenden Konfliktspirale schaffen. Doch die Realität sieht anders aus. Statt auf Deeskalation setzt die Regierung zunehmend wieder auf das Militär, was Hunderte Familien zur Flucht zwingt und in den Gemeinden Angst vor erneuten Gefechten schürt.
Die wiederkehrende Blockade von Soldaten ist Ausdruck dieser Sackgasse. Sie ist weniger Sympathiebekundung für die Dissidenten und auch nicht bloß auf eine Instrumentalisierung durch die FARC zurückzuführen, sondern vielmehr ein verzweifeltes Mittel der Bevölkerung, sich Gehör zu verschaffen und nicht noch einmal als bloßer »Kollateralschaden« behandelt zu werden. Die Reaktion der Regierung – Strafanzeigen und Drohungen – zeigt, dass sie das nicht versteht.
Solange die integrale Landreform nicht alle Landesteile erreicht, ökonomische Alternativen zum Kokaanbau unattraktiv bleiben und nicht jeder Kolumbianer Zugang zu sozialen Strukturen hat, bleibt der »totale Frieden« mehr Schlagwort als Realität.
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