Krieg nach Europa zurückgebracht

Die NATO-Osterweiterung hat die im europäischen Teil Russlands dislozierten Hauptkräfte der strategischen Angriffswaffen bereits erheblich entwertet. Mit dem Vorrücken des Bündnisses um 600 bis 700 Kilometer nach Osten hat sich auch potentiell die Reichweite der NATO-Kampfflugzeuge bei Starts von Flugplätzen der drei neuen Mitgliedstaaten erhöht. Das Spektrum der mit herkömmlichen Gefechtsmitteln der Luftwaffe lösbaren strategischen Aufgaben hat sich bedeutend erhöht. Vor der Erweiterung waren von ihr nur 30 bis 40 Prozent der wichtigsten Elemente der russischen Kernwaffenkräfte erreichbar, nach der bisherigen Erweiterung sind es schon 65 bis 70 Prozent. Russland musste das hinnehmen. (…)
Bedenkliche Erfahrungen mussten die amerikanischen Militärstrategen beim Einsatz massierter konventioneller Gewalt sammeln. Seit 1992 war für sie die Konzeption verbindlich, zur Durchsetzung der nationalen Interessen gleichzeitig zwei Konflikte operativer Dimension bewältigen zu können. Für jeden dieser lokalen Kriege wollte man auf beiden Schauplätzen gleichzeitig zum Einsatz bringen können: wenigstens 500 000 Soldaten und Matrosen, sechs bis sieben Divisionen des Heeres und der Marineinfanterie, zehn Kampfgeschwader der Luftwaffe, vier bis fünf Flugzeugträgerschlaggruppen.
Das ist weder gegen den Irak noch in Bosnien und auch nicht im Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien gelungen. (…) Schon denkt man daran, die bisher hohen Anforderungen an das Vermögen der Streitkräfte vorerst auf die Fähigkeit zurückzuschrauben, gleichzeitig einen größeren Krieg, einen kleinen lokalen Konflikt und einen sogenannten Friedenseinsatz bewältigen zu können. Damit könnten nach amerikanischer Einschätzung ausreichende Kräfte und Mittel bereitgestellt werden, um die Versuche Iraks, Nordkoreas bzw. Chinas zurückzuweisen, Raum nach Süden zu gewinnen, bzw. sich Seoul militärisch aufzuzwingen oder Taiwan mit Seestreitkräften militärisch herauszufordern. (…)
Die strategischen Kernwaffen der USA sind wie die Kernwaffen in der Hand aller Besitzländer das zweischneidige Schwert geblieben. Sie können nur um den Preis des eigenen Unterganges zum Einsatz gebracht werden. Die anderen Teilstreitkräfte der USA besitzen nicht das Potential und die Eignung zu globaler Dominanz und regionaler Durchsetzungsfähigkeit, wenn sie auf sich allein gestellt bleiben. Daher kann davon ausgegangen werden, dass die amerikanischen Strategen das Militärpotential ihrer Verbündeten fest in ihre Planungen einbinden und unablässig neue Verbündete suchen und an sich binden werden. Während das in Europa in Gestalt der NATO erfolgreich vorangeht, sieht die NATO in Ost- und Südostasien Nachholbedarf. (…)
Es ist sinnvoll, die strategischen Angriffskräfte wie nachfolgend die Kräfte allgemeiner Bestimmung im Vergleich mit denen Russlands zu bewerten. Russland als Nachfolgestaat der UdSSR unterscheidet sich von allen anderen Groß- und Regionalmächten dadurch, dass es als einzige Macht mit seinem Potential den USA einen nicht hinnehmbaren Schaden zufügen kann. Folglich bleibt es trotz anderslautender amerikanischer Erklärungen objektiv Hauptopponent und wichtigster strategischer Herausforderer der USA. (…)
Noch lange werden die USA und Russland auf diesem wichtigsten militärstrategischen Gebiet miteinander zu tun haben. Ohne ein gleiches Verständnis militärstrategischer Zusammenhänge, darunter Notwendigkeiten und Verbote, wird man in Komik und Tragik abgleiten.
Das beginnt mit dem einheitlichen Verständnis der Konzeption der »gegenseitigen Abschreckung«. Sie gelingt nur bei strategischer Stabilität. Das ist ein Zustand zwischenstaatlicher Beziehungen, der keiner Seite die Möglichkeit einräumt, das Kräfteverhältnis mit dem Ziel des Erfolges in einem Kernwaffenkonflikt zu verändern. Das heißt: Jede Seite bleibt in der Lage, der anderen bei Antworthandlungen einen nicht hinnehmbaren Schaden zuzufügen. (…)
Die von den Kernwaffen erzwungene Stabilität verhinderte im Kalten Krieg auch die Realisierung der herkömmlichen Gefechtsmöglichkeiten der Feldheere, der Kampfflieger- und der Kampfschiffskräfte. Nach 50 Jahren haben die USA und die NATO den konventionellen Krieg in das Herz Europas zurückgebracht. Er hat Tausenden Menschen den Tod gebracht, fast zwei Millionen vertrieben und die Lebensgrundlagen für zehn Millionen bedrohlich reduziert. Neu ist an diesem konventionellen Krieg, dass die Schlacht nicht von beobachtetem Geschützfeuer und gepanzerten Gefechtsordnungen entschieden wurde. Die Feuerorgie kam nur aus der Luft. Vormalige Arten der Gefechtssicherstellung wurden Arten der Gefechtshandlungen. Es etablierten sich der Kampf um die Informationsüberlegenheit sowie der funkelektronische und der moralisch-psychologische Kampf.
Hans-Werner Deim: Zweischneidiges Schwert. Die Militärstrategie der USA (Teil 2). In: jW vom 28. September 2001 (aktualisierte Fassung eines Artikels, der zuerst in den Marxistischen Blättern 5/2001 erschien)
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