Ungeteilte Kontrolle
Von Hans-Werner Deim
Die USA sehen sich heute von der Geschichte und von Gott mandatiert, der Menschheit ihre Weltsicht und die Verhaltensregeln in der internationalen Arena zu diktieren. Das neue System der internationalen Beziehungen kann daher als Washingtoner System bezeichnet werden. Es beendet endgültig das Kräftegleichgewicht zwischen den bisherigen Hauptakteuren der Weltpolitik. Finanzökonomisch, politisch, diplomatisch und medial soll es vor dem Hintergrund des Kraftfeldes gestaltet werden, das die Streitkräfte der USA bilden. Die amerikanische Weltführerschaft stützt sich auf die Gefechtsbereitschaft und -fähigkeit ihrer Streitkräfte.
Das Washingtoner System hat die zeitlich vor ihm geschaffenen Institutionen (UNO, Sicherheitsrat, OSZE u. a.) formell nicht angetastet. Faktisch aber hat es ihre normative und koordinierende Rolle durch »stille Revolution« (in der UNO) und blutige Aktionen (in der Bundesrepublik Jugoslawien) grundlegend zu verändern versucht. Alle bedeutsamen internationalen Rechtsakte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind in Frage gestellt. Die USA billigen unter den »übernommenen« Institutionen nur der NATO eine eigenständige militärpolitische Rolle zu. Dieses Zugeständnis an die alten, die neuen und die zukünftigen Verbündeten sichert den USA deren Gefolgschaft und Kontrolle sowie die weitere Expansion der NATO nach Osten. Das neue globale System soll helfen, die geopolitischen Hauptopponenten Russland, China, Indien und in gewisser Weise auch Japan durch Unterordnung, Isolation und Teilung zu neutralisieren. Um globale Hegemonie zu erreichen, bedarf das Washingtoner System der Unterstützung konkurrierender Staaten. Diese Unterstützung wird vom Gros der »Goldenen Milliarde« erwartet (von den Westeuropäern, den europastämmigen Nordamerikanern, von Australiern, Neuseeländern und Israelis). Mit ihnen teilen die USA ein Schicksal, die Abhängigkeit der Wirtschaftsmodelle von den natürlichen Ressourcen und Energieträgern. Dieses eine Sechstel der Menschheit beutete diese Ressourcen vor einigen Jahrzehnten zu 60 Prozent aus, heute verbraucht es 80 Prozent, in einigen Jahrzehnten werden es 100 Prozent sein. Schon mangelt es auf der Welt an Wasser, bald reicht die Luft nicht mehr. Die »Goldene Milliarde« stellt dann das Schicksal der absoluten Mehrheit der Menschheit zur Disposition.
Der Washingtoner NATO-Vertrag von 1949 ist im Jahre 1999 nicht zuletzt für den künftigen zugespitzten Kampf um die Lebensgrundlagen der »Goldenen Milliarde« korrigiert worden. Die Streitkräfte der NATO dürfen nach dem neuen strategischen Konzept auch für diese Zwecke, also nicht mehr nur für die Selbstverteidigung, genutzt werden. (…)
Die traditionellen Postulate der »klassischen« Geopolitik sind für die USA verbindlich geblieben. Zur Reproduktion ihres Wohlstandes holten sie sich immer den Geist aus Europa und die Rohstoffe aus Asien. Ihre Zukunft verbinden sie daher weiter mit der ungeteilten Kontrolle des eurasischen Herzlandes (Herzstück Eurasiens ist das Territorium des vorrevolutionären Russlands zwischen dem 40. und dem 120. Meridian östlicher Länge).
In der Zeit des Kalten Krieges nahmen die USA das eurasische Herzland in eine geopolitische Zange. Die mit dem Herzland fast identische UdSSR sollte in einem eisernen Halbring zusammengepresst und die Überlegenheit der atlantischen Seemächte über die scheinbar übermächtige Kontinentalmacht nachgewiesen werden. Die Politik des Druckes auf die UdSSR von den Flanken führte zum engen Bündnis mit Deutschland und Japan. (…) Um die UdSSR als eurasisches Herzland wurden im Halbbogen vier Militärbündnisse plaziert: NATO (seit 1949), ANZUS-Pakt (seit 1951), SEATO (1954–1977), Cento (1959–1979).
Seitdem die USA sich im Kalten Krieg durchgesetzt haben, verfolgen sie in Eurasien weiterreichende Ziele. Eurasien soll gefügig gemacht werden. Sein Süden und Norden sollen voneinander getrennt werden. So soll die gegenseitige Unterstützung unterbunden oder zumindest maximal erschwert werden. Daher wird die Absicht verfolgt, Eurasien vom Schwarzen bis zum Ochotskischen Meer geopolitisch horizontal zu zerschneiden. Die Schnittstelle ist kein Geheimnis geblieben. Sie wird von den Aktivitäten der USA und immer mehr auch der NATO in der Ukraine, Georgien, Aserbaidschan, den postsowjetischen Republiken Zentralasiens sowie gegenüber China markiert. Die USA wollen China an ihren geopolitischen Aktivitäten beteiligen. Ob der neue russisch-chinesische Freundschaftsvertrag einer chinesischen Absage gleichkommt, muss sich erst zeigen. Russland wird seine Interessen ruhig wägen. Um der geostrategischen Horizontalen der USA eine eurasische geostrategische Vertikale entgegenzustellen, könnte sich Russland an die Seite Indiens, des Iran und Kasachstans stellen.
Hans-Werner Deim: An jedem Punkt der Erde. Die Militärstrategie der USA (Teil 1). In: jW vom 27. September 2001 (aktualisierte Fassung eines Artikels, der zuerst in den Marxistischen Blättern 5/2001 erschien)
Tageszeitung junge Welt am Kiosk
Die besonderen Berichterstattung der Tageszeitung junge Welt ist immer wieder interessant und von hohem Nutzwert für ihre Leserinnen und Leser. Eine gesicherte Verbreitung wollen wir so gut es geht gewährleisten: Digital, aber auch gedruckt. Deswegen liegt in vielen tausend Einzelhandelsgeschäften die Zeitung aus. Überzeugen Sie sich einmal von der Qualität der Printausgabe.
links & bündig gegen rechte Bünde
Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.
Ähnliche:
- Francois Lenoir/REUTERS04.04.2024
Im Kampf gegen Moskau
- Jens Schulze31.01.2024
Die Maschine abschalten
- Sven Simon/imago stock&people/imago04.08.2022
Der schlimmste Feind
Mehr aus: Wochenendbeilage
-
Brennpunkt der Besatzung
vom 16.08.2025 -
Melonen-Feta-Salat
vom 16.08.2025 -
Kreuzworträtsel
vom 16.08.2025 -
»Ich hatte eine regelrechte Allergie gegen die deutsche Sprache«
vom 16.08.2025 -
EU-Kriegstreiber
vom 16.08.2025