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Aus: Ausgabe vom 29.08.2025, Seite 7 / Ausland
Nahostkonflikt

Den Tempelberg im Visier

Brief aus Jerusalem:Israels Minister wollen islamisches durch jüdisches Heiligtum ersetzen
Von Helga Baumgarten, Jerusalem
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Provokation: Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir nach seinem Gebet auf dem Al-Aksa-Moscheekomplex (Jerusalem, 3.8.2025)

»Wir dürfen nicht vergessen, dass die israelische Regierung die Lage vollständig kontrolliert. Wer kann verhindern, dass sie die Aksa-Moschee zerstören und den dritten Tempel aufbauen?« Mein Gesprächspartner in der Jerusalemer Altstadt, Spezialist für den Haram Al-Sharif (Tempelberg) mit Aksa-Moschee und Felsendom, spricht unverblümt aus, was wir alle insgeheim befürchten: Es geht nicht mehr nur um das Siedlungsprojekt E1, um die Verhinderung eines palästinensischen Staates oder um die Annexion der Westbank (um vom Völkermord in Gaza gar nicht erst anzufangen), es geht auch um das drittwichtigste islamische Heiligtum.

Tacheles reden der rassistische »Sicherheitsminister« Itamar Ben-Gvir und seine religiös-extremistischen Horden ebenso wie Finanzminister Bezalel Smotrich, z. B. am vergangenen Sonntag. Vor den Massen, die den Todestag von Rabbi Abraham Kook, einem der geistigen Väter des modernen religiösen Zionismus, begingen, adressierte er den Jerusalemer Bürgermeister: »Ich gebe dir das Geld, du baust den Tempel.« Die Antwort des Bürgermeisters: »Du bist der beste Finanzminister, den Israel je hatte.« Die Jerusalem Post berichtete, das sei als Spaß aufgenommen worden. Für palästinensische Ohren klang es allerdings keineswegs nach Spaß.

Mein Gesprächspartner verweist auf die Rolle der »Bewegung der Getreuen des Tempelbergs«. Ihr Gründer, Gerschon Salomon, begann mit einer winzig kleinen extremistischen Gruppe, den Bau des sogenannten dritten Tempels zu fordern. Jahrelang wurde er nur belächelt. Inzwischen füllen seine Anhänger die größten Kongresshallen Jerusalems. Heute gibt es zahllose neue Gruppen, die genau dieselbe fundamentalistisch-extremistische Ideologie vertreten und ins Werk setzen. Ben-Gvir begnügt sich nicht wie Ariel Scharon im Herbst 2000 (kurz bevor dieser Premierminister wurde) mit einem kurzen »Besuch« auf dem Haram. Er dringt regelmäßig in den Haram ein, begleitet von immer größeren Gruppen von jüdischen Fundamentalisten, deren Ziel der Aufbau des Tempels ist – nachdem die historischen Moscheen zerstört wurden, versteht sich. Sie beten in aller Öffentlichkeit, geschützt von der israelischen Polizei: eine einzige Provokation für die Palästinenser.

Derweil werden Muslime immer öfter daran gehindert, auf dem Haram zu beten. Die israelische Polizei geht mit menschenverachtender Gewalt gegen sie vor. »Der Haram wurde in ein regelrechtes Gefängnis für Muslime verwandelt. Verbote über Verbote. Man darf selbst das Wort Palästina nicht mehr aussprechen.« Wie überall in Palästina, angefangen in Gaza, werden Palästinenser nicht mehr als Menschen betrachtet. Der Umgang der israelischen Polizei mit ihnen ist »eine ununterbrochene Demütigung«.

Der Rabbiner der »Getreuen des Tempelbergs«, Jehuda Glick, beschreibt die seit Jahrzehnten verfolgte Strategie so: »Wir wollen den Grundstein für den Tempel zuerst in die Köpfe der Menschen legen.« Die nationalreligiösen Siedler, die einst dem klaren Verbot ihres Gründers Kook gefolgt waren, der jeden Besuch auf dem Haram verboten hatte, änderten ihre Position grundlegend mit einer neuen Erklärung im Januar 1997: »Steigt hoch auf den Tempelberg.« Glick beschrieb diese Transformation in einem Interview im Mai 2012: »Als ich 1990 zum ersten Mal auf den Tempelberg ging, war ich allein. Heute gehen wir in Gruppen von 50 (die Mindestzahl, um ein Gebet zu verrichten, jW). Und es werden täglich mehr. Wir haben Großes erreicht. Der Tempel nimmt heute einen zentralen Platz in unserer nationalistischen Politik ein.«

Walid Khalidi, der größte palästinensische Historiker, schrieb Anfang des Jahres zur aktuellen Situation: »Der große Plan, das gesamte Palästina auszuradieren, war niemals sichtbarer als jetzt. Die palästinensische Identität soll ausgelöscht werden. Wir stehen vor einem neuen Kreuzzug, einer unheiligen Allianz von talmudischem Zionismus und amerikanisch-evangelikalem Imperialismus. Sie bekämpfen nicht nur Palästina, sondern die gesamte islamische und arabische Identität. Dies ist eine existentielle Herausforderung. Werden die arabischen Könige, Emire und Präsidenten das Ausmaß der sich vor ihren Augen abspielenden Katastrophe erkennen? Oder werden sie, wie schon zuvor, den Kopf senken in schändlicher Unterwerfung?«

Helga Baumgarten ist emeritierte Professorin für Politik der Universität Birzeit in Palästina

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