Gegründet 1947 Freitag, 15. August 2025, Nr. 188
Die junge Welt wird von 3019 GenossInnen herausgegeben
Aus: Ausgabe vom 11.08.2025, Seite 5 / Inland
Betriebliche Mitbestimmung

Betriebsrat statt Scheingremium

Berlin: Chefs dreier landeseigener Betriebe fechten Wahl von Belegschaftsvertretung an. Termin vor Arbeitsgericht im Oktober erwartet
Von Jessica Reisner
imago796222055.jpg
»Grün Berlin« verantwortlich: Neugestaltetes Marx-Engels-Forum in der Hauptstadtmitte

Drei landeseigene Berliner Unternehmen fechten die Wahl eines gemeinsamen Betriebsrats ihrer Beschäftigten an. Sie beantragten, neben einem formellen Aspekt, vor allem prüfen zu lassen, ob ein Gemeinschaftsbetrieb existiert, berichtete kürzlich der Tagesspiegel.

Das Land Berlin unterhält laut Senat knapp 300 Tochterunternehmen. Nur ein Teil davon hat Betriebs- oder Personalräte. In einigen wird nicht einmal Tarif gezahlt. So das Ergebnis einer schriftlichen Anfrage, die die SPD-Abgeordneten Bettina König, Lars Düsterhöft und Sven Meyer im Juni 2022 an die Senatsverwaltung für Umwelt, Mobilität, Verbraucher- und Klimaschutz (SenUMVK) gerichtet hatten.

Die rund 350 Angestellten der landeseigenen Betriebe Grün Berlin, Grün Berlin Service und Infravelo, alle drei GmbHs, wollten das ändern und wählten am 1. Juli 2025 einen gemeinsamen Betriebsrat. Die Anfechtung der Betriebsratswahl durch die jeweiligen Geschäftsleitungen erfolgte prompt.

Das Arbeitsgericht solle prüfen, ob eine gemeinsame Vertretung der Beschäftigten überhaupt rechtens sei, so die Geschäftsleitungen von Grün Berlin und Infravelo am vergangenen Donnerstag auf jW-Anfrage. Ob also ein Gemeinschaftsbetrieb vorliegt oder jede der GmbHs einen eigenen Betriebsrat wählen müsse.

Ein Grund, der vorgeschoben wirkt. Zumal alle drei Unternehmen an derselben Adresse im imposanten »backsteinexpressionistischen« Ullsteinhaus in Tempelhof ansässig sind und seit 2021 eine gemeinsame Mitarbeitervertretung bestanden hatte. Eine Belegschaftsvertretung also, die vom Goodwill der Chefs abhängig ist; ein rechtsfreies Scheingremien, das Mitbestimmung bestenfalls simuliert und deren Mitglieder oft managementnahe Angestellte sind.

imago823623638.jpg
Das alterwürdige »backsteinexpressionistische« Ullsteinhaus beherbergt zahlreiche landeseigene Betriebe (Berlin, 17.6.2025)

Das stößt auch Sven Meyer (SPD) auf. »Es scheint, dass die Geschäftsführung eine alternative Mitarbeitervertretung ohne jegliche Befugnisse gegenüber einem Betriebsrat mit abgesicherten Rechten bevorzugt«, sagte der Sprecher für Arbeit und Ausbildung seiner Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus am vergangenen Freitag gegenüber jW. Dabei gehörten die Landesbetriebe den Bürgern Berlins und hätten eine besondere Vorbildfunktion.

Die Geschäftsführungen von Grün Berlin und Infravelo betonten hingegen auf jW-Nachfrage, keine Strategie zur Verhinderung eines Betriebsrats verfolgen zu würden. Gleichzeitig weigern sie sich, wie auch die zuständige SenUMVK, den Namen der Kanzlei zu nennen, die mit der Anfechtung der Betriebsratswahl betraut ist. Die Senatsverwaltung bestätigte auf mehrfache Rückfrage lediglich, dass überhaupt eine Kanzlei mandatiert sei. Für derlei magere Auskünfte beschäftigt die Behörde offenbar gleich zwei Pressesprecher.

Davon abgesehen wirft der Wildwuchs an landeseigenen Berliner Betrieben auch grundsätzliche Fragen auf. Kann es betriebswirtschaftlich sinnvoll sein, für jedes noch so kleine Aufgabengebiet eine eigene GmbH zu gründen? Oder handelt es sich doch eher um einen riesigen, steuerfinanzierten Pöstchenmarkt? Schließlich hat jede GmbH eine eigene Geschäftsführung nebst Verwaltungsapparat. Hinzu kommt: Verantwortlichkeiten lassen sich so besser abwälzen und Angestellte leichter feuern, als es in den eigentlich zuständigen Ämtern möglich wäre.

Grün Berlin Service ist mit 17 Angestellten die kleinste der drei GmbHs, welche die gerade erfolgte Betriebsratswahl anfechten. Sie bietet technische Dienstleistungen an. Bei Grün Berlin beschäftigen sich rund 300 Angestellte mit Entwicklung, Bau und Betrieb öffentlicher Infrastruktur, während bei der Infravelo 40 Angestellte die Berliner Fahrradinfrastruktur voranbringen sollen.

Wie geht es nun weiter? Mit einer ersten Verhandlung vor dem Berliner Arbeitsgericht rechnen Beobachter im Oktober. Bis zur Entscheidung des Gerichts ist der gemeinsame Betriebsrat aber im Amt.

75 für 75

Mit der Tageszeitung junge Welt täglich bestens mit marxistisch orientierter Lektüre ausgerüstet – für die Liegewiese im Stadtbad oder den Besuch im Eiscafé um die Ecke. Unser sommerliches Angebot für Sie: 75 Ausgaben der Tageszeitung junge Welt für 75 Euro.

 

links & bündig gegen rechte Bünde

Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.

Ähnliche:

  • Ein schwerer, oft langwieriger Gang der Geschassten vor den Kadi...
    30.04.2025

    Fristlos gefeuert

    Schützen Arbeitsgerichte Lohnabhängige vor Unternehmerwillkür? Verfahren zu lang. Anwälte fordern mehr Richter
  • Gegenstand des Aufrufs: Großdemonstration gegen Rassismus und di...
    09.01.2025

    Abmahnung nach Demoaufruf

    Arbeitsgericht gibt Freier Universität Berlin recht: Zusammenhang zwischen prekären Beschäftigungsverhältnissen und »Rechtsruck« sei Schmähkritik
  • 17.08.2023

    Krisenreflexe bei Getir

    Beschäftigten von Lieferdienst werden mittels Vertragsklausel Stunden gestrichen

Regio:

                                                                 Aktionsabo: 75 Ausgaben für 75 Euro