Das atomare Erbe
Von Igor Kusar, Tokio
In diesen Tagen jähren sich die US-Atombombenabwürfe auf die japanischen Großstädte Hiroshima und Nagasaki zum achtzigsten Mal. Hunderttausende wurden am 6. und 9. August 1945 entweder sofort getötet oder sind an den Folgen der radioaktiven Strahlung gestorben. Der menschenverachtende Einsatz der neu entwickelten Kampftechnologie läutete das atomare Zeitalter ein und gilt – neben dem Holocaust – als einschneidenstes Ereignis des 20. Jahrhunderts.
Bis 2022 war es ruhiger geworden um die beiden Friedensstädte. Zuvor war es anders. Bis in die 70er Jahre herrschte weltweit eine rege Diskussion über die Bedeutung des nuklearen Infernos für die Menschheit und den Bestand der Erde. Weltbekannte Philosophen wie Jean-Paul Sartre, Albert Camus oder Bertrand Russell mischten sich in die Debatten ein. Doch mit der beginnenden Aufarbeitung der Schoah traten Hiroshima und Nagasaki in den Hintergrund. Auschwitz wurde zum Symbol für das absolut Böse – andere Verbrechen an der Menschheit drohten im Vergleich dazu zu verblassen.
Die Zurückdrängung der Symbolkraft der beiden Atombombenstädte hatte System. Vor allem in den USA wurden und werden viele Tatsachen über den Verlauf bis hin zu den Abwürfen von offizieller Seite und privaten Lobbygruppen unterdrückt. Die meisten US-Amerikaner verfügen nur über Halbwissen und sind von der Notwendigkeit der Bomben überzeugt, die Japan schlussendlich in die Knie gezwungen und dadurch Menschenleben gerettet hätten.
Doch mit der Eskalation des Ukraine-Kriegs 2022 und dem weltweiten Rüstungsboom begann man sich wieder auf die Bedeutung von Hiroshima und Nagasaki zu besinnen. Dieses Revival bekam im vergangenen Jahr mit der Verleihung des Nobelpreises an die Antiatombewegung Nihon Hidankyō – geleitet von Überlebenden der Katastrophe – einen Schub. Nun sind ihre schrecklichen Erfahrungen, von denen sie zu erzählen wissen, wieder gefragt. »No more Hiroshima, no more Nagasaki« – der berühmte Slogan der beiden Städte – erschallt erneut in voller Stärke über die Weltkugel. Der japanischen Friedensbewegung kommt sicherlich der Umstand zugute, dass ihre Bemühungen nicht in nationalen Diskussionen steckenbleiben oder sich auf eine Kritik der USA beschränken, sondern auf Weltfrieden und die vollständige nukleare Abrüstung ausgerichtet sind. In der global vernetzten Antiatomwaffenbewegung haben die Japaner deshalb großes Gewicht und bekleiden eine Sonderstellung.
Doch so gradlinig und unkompliziert, wie es scheint, sind diese Debatten und die Aufarbeitung der nuklearen Zerstörung in Japan nicht. Nicht nur die Atombomben haben tiefe Wunden hinterlassen, die immer noch nicht verheilt sind, auch die Niederlage des faschistischen Japans im Zweiten Weltkrieg ist noch immer nicht verwunden. Zwar konnten der Nachkriegspazifismus und die konziliante Haltung gegenüber den USA darüber hinwegtäuschen, doch die öffentliche Debatte, die in Japan wie immer von Tabus geprägt ist, ist irreführend. Tief im Innern des kollektiven Unterbewusstseins brodelt es. Das spiegelt sich in der japanischen Popkultur wider, die sich vieler Freiheiten erfreut und tief in die nationale Psyche blicken lässt.
Nachklingende Animositäten gegenüber den USA kommen da zum Vorschein, wie auch nostalgische Gefühle für das japanische Großreich zu Beginn der 1940er Jahre und der Wunsch, an diese Zeit anzuknüpfen. Typischer Repräsentant für den etwas unscharfen Groll auf die USA ist etwa die Filmreihe »Godzilla«. In der ersten Folge von 1954 schaffen es die Japaner, das nuklear verseuchte Monster, das die US-Amerikaner repräsentiert, im Alleingang zu besiegen und dadurch ihre Minderwertigkeitsgefühle zu überwinden. Durch den Konsum des Films durchlebten die Japaner erneut die Schrecken der nuklearen Katastrophe – eine Katharsis. Zur vielschichtigen Diskussion trägt nicht zuletzt auch die Regierung in Tokio bei, die sich stets nur sehr vage zur Notwendigkeit der nuklearen Abrüstung äußert und auch dem Atomwaffensperrvertrag nicht beigetreten ist.
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