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Aus: Ausgabe vom 05.08.2025, Seite 10 / Feuilleton
Sommerloch

Nicht gestorben in Brügge

Reisen zur Urlaubszeit
Von Maik Rudolph
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Prächtiger Blick von der Loggia des Grutmonopolisten auf das jüngste Bauwerk weit und breit: Selfiemagnet Bonifazius-Brücke

Nach Jahren antizyklischen Reisens trifft es mich beim Besteigen des ICE wie die sprichwörtliche Madeleine ins Gesicht: Urlaubssaison. Eine Rollkofferarmada verstopft die Gänge – Superstau! Massen in lähmend-langsamer Bewegung auf der Suche nach dem reservierten Platz oder dem großen Preis: eine vogelfreie Sitzmöglichkeit im überteuerten Zug, für den ich für die Strecke Berlin–Köln ungefähr soviel berappen musste bei ähnlicher Dauer wie für einen »Gaotie« von Beijing nach Shanghai, was sich grob mit Berlin–Rom übersetzen lässt.

Vier Stunden stehend im Verbindungsschlauch; zu meiner Linken sitzt ein Gothicmädchen neben ihrem Rollkoffer, Geißel der Menschheit; er ist größer als sie. Zur Rechten: ein Belgier mit herausragenden Hupen. Im Hohlkreuz: ein Türknauf. ’türlich hatte ich kurzzeitig einen Sitzplatz; dann kam die Durchsage, es würden die Platzreservierungen in einem Waggon nicht korrekt angezeigt. Neben dem dicken Kind mit Tablet und wohlstinkender McDonald’s-Tüte hatte ich bereits erste Zweifel am Wohlbefinden in den nächsten Stunden. Die Erlösung: »Sie sitzen auf meinem Platz.«

Reiseziel erreicht: Brügge gesehen, nicht gestorben. Pittoresk, toller Urlaub, Fritten doppelt in Rinderfett getaucht, leichte Biere mit acht Prozent, gotische Metropole des Spätmittelalters. Fast hätte ich mich bekreuzigt, um eine Reliquie dritter Klasse in der Basilika des Heiligen Blutes zu ergattern; das ging mir dann aber doch zu weit. Das Wohnhaus des Mundschenks Ludwig von Gruuthuse – der mit hohen Abgaben für die Hopfenalternative Grut die Bierproduzenten in Grund und Boden besteuerte – ist eines meiner Top-drei-Mittelaltermuseen. Die anderen: Burg Querfurt, gelegen zwischen Himmelsscheibe und der Heimat von Elsterglanz, und die Benchmark The Cloisters in den Washington Heights: Kronjuwel von John D. Rockefeller Jr.; vier französische Klöster verschifft und neu zusammengesetzt.

Rückfahrt im Bordbistro, direkt vor der ersten Klasse: Bei den Schienenbaronen kommt ein dickerer Strahl und mehr Wasser aus dem Hahn – Wassersparen wird nur den Zweitklässlern auferlegt –, und dennoch rauchen sie heimlich auf dem Klo, defäkieren auf den Porzellanrand. Der Mehrzahler darf sich alles erlauben. Wo ist die Jaguar-Gang aus dem frankobelgischen Comic »Die Schienenmenschen«, wenn man sie braucht?

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