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Aus: Ausgabe vom 28.07.2025, Seite 2 / Inland
Wohnungslosigkeit

»Verdrängung löst keine Probleme«

Berlin: Umbau des Bahnhofs Alexanderplatz zielt auch auf Vertreibung von Obdachlosen. Ein Gespräch mit Marie-Sol Gersch
Interview: Max Ongsiek
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Ein Obdachloser am Berliner Bahnhof Alexanderplatz (Juni 2025)

Ab Ende 2025 wird der Bahnhof Alexanderplatz in Berlin bei laufendem Betrieb umgebaut. Offiziell liegt der Schwerpunkt der Maßnahmen auf Brandschutz und Modernisierung. Es gibt aber Berichte, denen zufolge die Bahn die Neugestaltung des Untergeschosses dafür nutzen will, Obdachlosen den Aufenthalt zu erschweren oder unmöglich zu machen. Was bedeutet das?

Der Aufenthalt in öffentlichen oder privaten Bereichen, wie zum Beispiel in Bahnstationen, soll für Obdachlose unattraktiv werden. Die Umgestaltung von Bahnhöfen ist für passierende Reisende oft unsichtbar. Für obdachlose Menschen, die sich für längere Zeit in diesen Räumlichkeiten aufhalten müssen, sind diese Maßnahmen aber relevant. Was mir bei der aktuellen Berichterstattung ins Auge sticht, ist die Art und Weise, wie die Bahn in ihrer Ausschreibung die Sanierungsmaßnahmen am Bahnhof Alexanderplatz begründet. Die Betonung der Reduzierung von Störungen durch sich nicht »sozialadäquat verhaltende« Nichtreisende verdeutlicht, dass die Erneuerung der Brandschutztechnik nicht der alleinige Fokus der Umbaumaßnahmen sein wird.

Wie werden Bahnhöfe durch Umgestaltung unattraktiv?

Das passiert beispielsweise durch räumliche Gestaltung, sogenannte defensive Architektur oder Beschallungsmechanismen. Die Verdrängung findet vor allem in Räumen statt, in denen unterschiedliche Nutzungsansprüche verschiedener Gruppen vorherrschen und sich zumindest scheinbar entgegenstehen. Für die gewünschte Nutzergruppe – die Reisenden – soll die Attraktivität dieser Orte gesteigert werden. Das geschieht dann für »unerwünschte« Menschen durch bauliche Maßnahmen. Das ist leider nicht seltene Praxis.

Einem Bahnsprecher zufolge sollen die Maßnahmen »Angsträume« beseitigen und »Aufenthaltsmöglichkeiten für Nichtreisende wie zum Beispiel Wohnungslose« reduzieren. Was für ein Weltbild spricht aus dieser Wortwahl?

Das Argument, »Angsträume« zu beseitigen, kann eine Antwort auf subjektive Unsicherheitsgefühle darstellen. Werden von Obdach- oder Wohnungslosigkeit betroffene Personen medial als eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung dargestellt, führt das am Ende zu einer Perspektive, aus der sie, obgleich in der Regel keine Gefahr von ihnen ausgeht, aufgrund fehlender Informationen und öffentlicher Aussagen als gefährlich eingestuft werden. Hierbei wird jedoch übersehen, dass Wohnungslosigkeit für die Menschen selbst ein großes Sicherheitsrisiko darstellt, da sie mit einer höheren Wahrscheinlichkeit von Gewalterfahrungen betroffen sind.

Wo gehen die Obdachlosen hin, wenn Aufenthaltsmöglichkeiten wie am Alexanderplatz wegfallen?

Nur weil eine Notlage an einem Ort unsichtbar ist, bedeutet das nicht, dass sie verschwindet. So verhält es sich auch mit der Verdrängung von obdachlosen Personen aus öffentlichen oder privaten Bereichen. Die betroffenen Menschen ziehen dann in die umliegenden Bereiche und suchen alternative Plätze. Da ihre Lebensrealität oft von Gewalt geprägt ist, werden Örtlichkeiten aufgesucht, die anscheinend ein geringeres Risiko bieten. Das zeigen zum Beispiel auch unsere Analysen zur Gewalt. Leider können durch räumliche Veränderungen auch wichtige Kontakte im Bereich Straßensozialarbeit verloren gehen.

Zuletzt erklärte ein Bahn-Manager, sein Unternehmen könne das Obdachlosen-»Problem« in der Hauptstadt nicht ohne Schulterschluss mit Bezirksverwaltung und Senat lösen. Was sind denn da für Maßnahmen zu erwarten?

Wie viele andere Bundesländer und Städte hat Berlin ein System differenzierter Hilfeangebote für Menschen, die von Wohnungs- und Obdachlosigkeit betroffen sind. Der Senat hat zudem im September 2021 einen »Berliner Masterplan zur Überwindung von Wohnungs- und Obdachlosigkeit bis zum Jahr 2030« verabschiedet. Das Angebot reicht jedoch nicht aus – es braucht mehr präventive Hilfen und mehr bezahlbaren Wohnraum, um die Lebenssituation dieser Menschen zu verbessern. Zudem muss klar sein: Verdrängung, egal in welcher Form, löst keine Probleme, sondern verengt den Aufenthaltsort der betroffenen Personen und beschränkt sie in der Nutzung des öffentlichen Raums, der allen Menschen gleichermaßen zur Verfügung stehen sollte.

Marie-Sol Gersch ist Fach­referentin bei der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e. V.

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