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Aus: Ausgabe vom 28.07.2025, Seite 1 / Inland
Appell an »die Deutschen«

Ein ziemlich faules Volk

Bundeswirtschaftsministerin Reiche: »Wir müssen mehr und länger arbeiten«
Von Klaus Fischer
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Auf einer Baustelle in München (1.7.2025)

Bundeswirtschaftsministerin Katherina Reiche hat die Bewohner dieses Landes aufgefordert, mehr und länger zu arbeiten. »Der demographische Wandel und die weiter steigende Lebenserwartung machen es unumgänglich: Die Lebensarbeitszeit muss steigen«, sagte die CDU-Politikerin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ). Das freut die Kapitallobby und sorgt anderswo für Unmut. Selbst der sogenannte CDU-Sozialflügel kritisierte Reiche, meldete dpa.

Leider verweigerten sich zu viele zu lange der demographischen Realität. »Es kann jedenfalls auf Dauer nicht gutgehen, dass wir nur zwei Drittel unseres Erwachsenenlebens arbeiten und ein Drittel in Rente verbringen«, sagte Reiche. Es gebe viele Beschäftigte in körperlich anstrengenden Berufen, aber auch viele, die länger arbeiten wollten und könnten.

Kurz gesagt: Frau Ministerin hält der erwerbsfähigen Bevölkerung Faulheit vor und insinuiert, dass Rentner eine Art Sozialschmarotzer seien. Woher hat sie diese Weitsicht? Unternehmen hätten ihr berichtete, dass ihre Beschäftigten am US-Standort 1.800 Stunden pro Jahr arbeiteten, in Deutschland aber nur 1.340 Stunden. Reiches schnelles Fazit: »Im internationalen Vergleich arbeiten die Deutschen im Durchschnitt wenig.« Ähnliche Töne hatten bereits der derzeitige Bundeskanzler und der Generalsekretär ihrer Partei angeschlagen – und dann stimmten alle einer Erhöhung der Militärausgaben von zwei auf fünf Prozent des BIP zu.

Aktuell zahlen »die Deutschen« weltweit mit die höchsten Steuern und Abgaben. Die Staatsquote liegt bei 50 Prozent plus, und zuletzt wurden neue Schulden von mehr als einer Billion Euro auf den Weg gebracht. Seltsam, dass die CDU-Ministerin in der FAZ sogar eine der Ursachen dafür nennt, dass Ältere nicht über ihr Rentenalter hinaus schaffen wollen: »Die Kombination aus Lohnnebenkosten, Steuern und Abgaben macht den Faktor Arbeit in Deutschland auf Dauer nicht mehr wettbewerbsfähig«, so Reiche. Und die Lösung soll »mehr und länger arbeiten« sein?

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  • Leserbrief von Roland Winkler (31. Juli 2025 um 16:17 Uhr)
    Viel und gern werden die Lobeshymnen der Meinungsfreiheit gesungen. Die meisten glauben auch noch, es sei immer ihre eigne freie und vor allem wahrheitsgemäße Meinung. All jenen, die sich die Mühe machen, selbst zu denken, zu hinterfragen, Meinungsfreiheit als Freiheit eigener kritischer Meinungsbildung zu verstehen, denen wird schnell bewusst, wie ihnen politische, soziale, gesellschaftliche Sachverhalte sehr oft falsch, einseitig und vor allem stimmungsmachend vermittelt werden. Bürgergeld, Leistungsmissbrauch, Sozialbetrug mit Hinweisen auf »Ausländer« sind Begriffsverbindungen, die mit der neuen Regierung verstärkt zum Thema gemacht werden. Die Absichten sind jedem schnell erkennbar, so er nicht die ihm täglich vorgeführten Feindbilder schon als absolute Wahrheit verinnerlicht hat. Wenn im Lande fast sechs Millionen Menschen Bürgergeld beziehen und der eine oder andere jemanden zu kennen glaubt, der sich ohne zu arbeiten auf Kosten der Allgemeinheit ein schönes Leben macht, dann genügt das zu vernichtendem verallgemeinerndem Urteil über die Millionen. Solche Meinungsfreiheit ist nicht unerwünscht, dient dazu, soziale Konflikte dort auszutragen, wo das »Teile und herrsche«-Prinzip in der Bevölkerung funktioniert. Nur ja nicht die Ursachen, Wurzeln und Hintergründe für soziale Konflikte auf Ebene der Herrschenden, Regierenden, Reichen und Mächtigen suchen. Schuldige und »Sozialschmarotzer« dort finden und beim Namen nennen, wo nur keiner auf den Gedanken kommen könnte, am System und Machtverhältnissen könnte etwas nicht stimmen. Sind in einem Zuge »arbeitsunwillige« Deutsche mit »betrügerischen« Ausländern in einen Topf zu bringen – um so besser, zwei Stimmungsfelder zugleich bedient! Wer selbst sich Meinung bilden will, kann sogar noch erkennen wie der Leistungsmissbrauch, Bereicherung auf Kosten der Bedürftigen und Ärmsten von höchsten Ebenen der Kapitalverwertung und Ausbeutung stattfindet, Miethaie, Wohnungskonzerne, Lohnbetrug, »mafiöse« Strukturen, die Deutschen auch nicht fremd sind. Kann und will diese Gesellschaft soziale Konflikte überhaupt lösen? Diese Frage ist ernsthaft zu beantworten.
  • Leserbrief von Elvira Liebmann (31. Juli 2025 um 15:21 Uhr)
    Laut den Äußerungen von Bundeswirtschaftsministerin Katherina Reiche ist es unumgänglich, die Lebensarbeitszeit anzuheben. Wir leben bekanntermaßen in einer Ausbeutergesellschaft, in der die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen an der Tagesordnung ist. Im Kapitalismus sind die Steigerung der Arbeitsproduktivität, die Erhöhung der Intensität der Arbeit und die Verlängerung des Arbeitstages die Hauptmethoden der Ausbeutung. Die Ausbeutung steht an erster Stelle. Nur, wer kann diesem Druck auf Dauer widerstehen? Eine Erhöhung der Lebensarbeitszeit ist keine Lösung. Sie bedeutet noch mehr Arbeit, weniger Freizeit, und von Erholung kann gar keine Rede sein. Schon jetzt arbeiten viele Menschen länger und geraten dadurch an ihre Leistungsgrenzen, aus Angst, ihren Arbeitsplatz zu verlieren.
    Diese Arbeiter werden, wenn die Lebensarbeitszeit erhöht wird, wahrscheinlich ihre Rente gar nicht mehr erleben, und wahrscheinlich ist das so gewollt. Da fließt noch mehr Geld in die Aufrüstung, dafür ist jedes Mittel recht.
  • Leserbrief von Joachim Seider aus Berlin (28. Juli 2025 um 14:25 Uhr)
    Wenn jemand, die Reiche heißt und Politik für Reiche macht, dem arbeitenden Volk erklärt, es arbeite zu wenig: Woher stammt dann der Reichtum, für den sie sich so vehement einsetzt? Denn die Reichen arbeiten ja nicht, sie eignen sich lediglich an, was fremde Arbeit schafft. Sie erzielen Einkommen, das nicht auf ihren Leistungen beruht und mokieren sich über die, die wirklich etwas leisten müssen, um irgendwie über die Runden zu kommen. Wie wäre es, wenn Frau Ministerin Reiche solche Reichen zur Arbeit statt zum Rahmabschöpfen zwangsverpflichten würde, statt den Arbeitenden ein weiteres Mal in den Hintern treten zu wollen?
  • Leserbrief von Arvid Loerke aus Otranienburg (28. Juli 2025 um 12:57 Uhr)
    Frau Reiche sowie der gesamte toitsche Bundestag nebst all den SOGENANNTEN Experten, die den Lohnarbeitern mit fürstlichen Gehältern und Privilegien beglückt auf der Tasche liegen, sollten es selbst einmal mit Erwerbsarbeit versuchen. Damit Sie wissen, wovon Sie eigentlich orakeln. Für mich persönlich gilt das Marxsche Diktum; Das Reich der Freiheit beginnt dort, wo die Arbeit als Notwendigkeit aufhört.
  • Leserbrief von Reinhard Hopp aus Berlin (28. Juli 2025 um 11:00 Uhr)
    Und dann wollen diese faulen Säcke auch noch bis ins hohe Alter fette Renten beziehen. Eine Unverschämtheit, diese Anspruchshaltung! Dabei leben ihnen die Politker*innen doch ständig und in aller Bescheidenheit vor, mit wie wenig »leistungslosem Grundeinkommen« man das ganze Leben hindurch gut auskommen kann.
    • Leserbrief von Onlineabonnent/in Franz S. (28. Juli 2025 um 17:14 Uhr)
      »Und dann wollen diese faulen Säcke auch noch bis ins hohe Alter fette Renten beziehen«. Besonders lustig finde ich diese als Satire verbrämte Herablassung nicht.
  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (28. Juli 2025 um 10:53 Uhr)
    Leistung bemisst sich nicht an der Anzahl der Arbeitsstunden, sondern an dem in einer bestimmten Zeitspanne erzielten Ergebnis. Daher sollte man nicht Arbeitszeit mit Produktivität gleichsetzen – Qualität und Effizienz sind entscheidend. Diese grundlegende Unterscheidung sollte gerade einer Bundeswirtschaftsministerin vertraut sein. Statt pauschal längere Arbeitszeiten zu fordern, wäre eine differenzierte Analyse angebracht: Welche strukturellen Hemmnisse verhindern längeres Arbeiten tatsächlich – und wie kann man gezielt Rahmenbedingungen schaffen, die produktives Arbeiten über das Erwerbsleben hinaus ermöglichen, ohne in die Rhetorik von Trägheit und Leistungsschwäche zu verfallen? In diesem Zusammenhang wirkt es befremdlich, wenn politische Entscheidungsträgerinnen und -träger komplexe wirtschaftliche Herausforderungen auf einfache Forderungen reduzieren. Es stellt sich die Frage, nach welchen Kriterien Verantwortung in solche Ämter vergeben wird – und ob fachliche Eignung dabei immer den Vorrang hat.
    • Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (28. Juli 2025 um 16:51 Uhr)
      Liebe Istvan H., ich hätte nach den Erlebnissen mit unserer vormaligen Außenministerin nicht geglaubt, dass noch irgendwer im Lande daran glaubt, die politischen Ämter im Lande würden nach fachlicher Eignung vergeben. Gern erinnere ich mich auch an die schrecklich naive Vorstellung der »Revolutionäre« von 1989, im Goldenen Westen entschiede in der Politik immer die Kompetenz und nie mehr ein Parteibuch. Das Leben war so rücksichtslos, uns sofort nach der »Revolution« eindrucksvoll zu zeigen, dass man im politischen Alltag auf Fakten und nicht auf die Illusionen bauen sollte, die die Herrschenden je nach Großwetterlage in die Diskussion einstreuen.
    • Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (28. Juli 2025 um 14:37 Uhr)
      Wie kann man »Qualität«, »Leistung« und »Effizienz« in einer Zeichenfolge verwenden, in der auch die Folge »Bundes...ministerium« vorkommt?
    • Leserbrief von Onlineabonnent/in Franz S. (28. Juli 2025 um 14:06 Uhr)
      »Leistung bemisst sich nicht an der Anzahl der Arbeitsstunden«. Das hat die Ministerin auch nicht behauptet. Unterm Strich werden sich die längeren Arbeitszeiten für die Kapitalisten schon rechnen, sonst würden sie dem ideellen Gesamtkapitalisten nicht den Auftrag für die Umsetzung bzw. Propaganda dafür erteilen. Interessant, dass Sie, wie die Ministerin, längere Ausbeutungszeiten für nötig halten.
  • Leserbrief von P. Tiedke aus Golzow (28. Juli 2025 um 10:33 Uhr)
    Wenn ich die Biographie von Reiche richtig gelesen habe, hat sie sich ihr Leben lang von Steuergeldern ernährt. Und wird dass aller Wahrscheinlichkeit nach - inclusive ihrer üppigen Rente aus Staatsknete - bis zu ihrem Ableben auch weiter tun. Von da her ist verständlich, dass sie die „anderen“ zu mehr Maloche mit tatsächlichem Mehrwert zwingen möchte, denn diejenigen, „die gerne länger arbeiten wollen und könnten“, tun das ja schon. Klaus Fischer verweist zu recht darauf, dass ja jemand den Gegenwert zu der Billion Kriegskredite erarbeiten muß. Nebenbei wird aus „berufenem Mund“ bestätigt, dass nur produktive Arbeit Werte schafft - das Kapital eignet sie sich nur an.
  • Leserbrief von Herbert Gerusch (27. Juli 2025 um 22:08 Uhr)
    ... sagt die schon heute (und auch später im Rentenalter) überversorgte Ex-Lobbyistin und Berufspolitikerin (wenn auch mit Berufsausbildung)...

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