Palmer bereitet die Bühne
Von Matthias Rude, Tübingen
Erstmals hatte die AfD für den Sonnabend eine Demonstration in Tübingen angesetzt. Während die rechte Partei zu ihrer Kundgebung mit dem Motto »Schwarz-Rot-Gold ist bunt genug« lediglich 35 Teilnehmer angemeldet hatte, mobilisierten zahlreiche Gruppen zu Gegenprotesten. Mehrere tausend Demonstranten wurden erwartet. Doch am Vortag sagte die AfD überraschend ab – nachdem Oberbürgermeister Boris Palmer einen merkwürdigen Deal mit ihr eingefädelt hatte.
Laut Stadtverwaltung hatten Einzelhändler bei Palmer interveniert. Sie warnten vor Umsatzeinbußen am Auftaktwochenende des Sommerschlussverkaufs. Eine Gegendemonstration werde den Busverkehr lahmlegen und potentielle Kundschaft abschrecken: »Ein großer Polizeieinsatz wird notwendig sein, um die beiden Gruppen zu trennen. Dass in einer solchen Situation die Kunden des Einzelhandels das Weite suchen oder gar nicht erst in die Stadt kommen, ist unvermeidlich«, so eine städtische Pressemitteilung.
Da das Grundgesetz das Demonstrationsrecht und die weitgehend freie Wahl von Ort und Zeit garantiert, sei eine Verlegung einer angemeldeten Versammlung »zum Schutz des Einzelhandels vor Umsatzverlusten« nicht möglich, heißt es dort weiter. Palmer suchte daher das Gespräch mit dem AfD-Kreisverband und fragte an, ob der Aufmarsch nicht verschoben werden könne – etwa auf Mittwoch abend. Der AfD-Landtagsabgeordnete Sandro Scheer lehnte ab, bot aber an, die Demonstration abzusagen, wenn sich der Oberbürgermeister im Gegenzug bereit erklären würde, »mit AfD-Abgeordneten in einer Halle in Tübingen eine öffentliche Diskussion zu führen«.
Der Ex-Grüne Palmer nutzte die Gelegenheit – und schlug ein. Im September soll nun eine Podiumsdiskussion mit mehreren AfD-Abgeordneten in Tübingen stattfinden. Einer der prominentesten Kommunalpolitiker des Landes wird der Partei also ein Forum bieten, dem große mediale Aufmerksamkeit zuteil werden dürfte. Die Nachteile einer solchen öffentlichen Debatte seien »materiell deutlich geringer«, so die Stadtverwaltung. Lediglich in politischer Hinsicht sei »ein Schaden zu befürchten, weil eine solche Diskussion als Bühne für die AfD oder als Beitrag zu ihrer Normalisierung verstanden werden könnte«. Tatsächlich handelt es sich um eine Win-Win-Situation: Palmer profiliert sich als Schutzherr des Einzelhandels, die AfD nutzt die Gelegenheit, sich als dialogbereit darzustellen. Doch die Bilanz des Ganzen ist: Bevor rechte Hetze den Handel stört, wird sie lieber salonfähig gemacht.
Palmer, seit 2007 Oberbürgermeister in Tübingen, polemisiert nicht nur mit Vorliebe gegen Arbeitskämpfe und andere linke Anliegen. Er trägt auch seit Jahren zur Verharmlosung und Normalisierung von Rechtsaußenpositionen bei. Im Jahr seines Amtsantritts versuchte die NPD-Jugendorganisation in Tübingen einen Aufmarsch durchzuführen. 200 Neonazis reisten an, über 10.000 Menschen protestierten dagegen. Palmer erklärte dazu nun rückblickend: »Ich habe der NPD genau dasselbe Angebot gemacht: Diskussion mit mir statt Demo. Die sind nur nicht darauf eingegangen.« Bereits am 16. Juli schrieb er, er könne zwar »auf eine Demo der AfD in Tübingen verzichten«, wenn sie den Sommerschlussverkauf behindere und »Hundertschaften Polizei beschäftigen« werde. Im selben Atemzug aber hetzte er gegen eine palästinasolidarische Demonstration, die für kommenden Mittwoch angekündigt ist: Linke Demonstrationen mit »blankem Antisemitismus« seien »kein Haar besser«.
Auch ohne Auftritt der AfD kam es am Sonnabend zu Protesten in der Innenstadt. Dort warf man Palmer vor, der AfD mit seinem »Deal« einen politischen Triumph verschafft zu haben. Der Oberbürgermeister versuchte sich zu rechtfertigen: Der Umgang mit der AfD werde nicht durch eine »Einzelentscheidung in Tübingen« festgelegt. Das Bündnis »Gemeinsam und solidarisch gegen rechts«, das eine der beiden Demonstrationen mit rund 700 Teilnehmern organisiert hatte, kritisierte, Palmer rolle der AfD »den roten Teppich aus«. Für das Podium im September kündigte das Bündnis entschlossenen Widerstand an.
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