»Psychologinnen warnen vor Stigmatisierung«
Interview: Gitta Düperthal
Erste Bundesländer planen künftig die Weitergabe sensibler Patientendaten im Fall von psychischen Erkrankungen an die Polizei zu ermöglichen, wie etwa die CDU/SPD-Koalition in Hessen. Worum geht es Ihrer Kenntnis nach?
Eine Offenlegung an Behörden soll in spezifischen Fällen erfolgen: nämlich dann, wenn Patienten aufgrund von Fremdgefährdung in einer psychiatrischen Einrichtung untergebracht wurden. Stellen behandelnde Therapeuten bei Entlassung eine weitere etwaige Fremdgefährdung fest, sollen sie Daten an die Behörden zur staatlichen Kontrolle übergeben. Mit solchen Gesetzentwürfen erhofft man, ein Risiko von Gewalttaten reduzieren zu können.
Der Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen, BDP, weist aber darauf hin, dass nach wissenschaftlicher Evidenz keine Möglichkeit bestehe, so Gewaltverbrechen zu verhindern – weshalb?
Psychisch Erkrankte weisen im Vergleich zu anderen Personengruppen grundsätzlich kein erhöhtes Gewaltpotential auf. Gewaltbereitschaft hängt von unterschiedlichen Faktoren ab, wie etwa dem sozioökonomischen Status, der Erziehung oder persönlichen Gewalterfahrungen. Psychische Erkrankungen stellen hierbei lediglich eine weitere Komponente dar. Effektive langfristige Gewalttatprävention müsste also auf gesellschaftliche Teilhabe achten, soziale Chancengleichheit fördern und intakte Versorgungsstrukturen schaffen, um Unterstützungsbedarfe frühzeitig zu erkennen.
Sie halten also staatliche Kontrolle eher für wenig hilfreich oder sogar für kontraproduktiv?
Wer eine Gewaltbereitschaft in sich trägt, würde sich im Fall, wenn er zusätzlich noch psychisch erkranken würde, gerade nicht in Behandlung begeben; müsste er befürchten, dass Daten dann an Behörden weitergereicht werden. Genau jene Patienten, die man erreichen will, würden sich also noch weniger melden. Psychologinnen und Therapeuten warnen deshalb vor Stigmatisierung und Vertrauensverlust.
Die ärztliche Schweigepflicht muss auch bislang gebrochen werden, wenn Eigen- oder Fremdgefährdung psychisch Erkrankter zu befürchten ist. Reichen diese Möglichkeiten nicht aus?
Doch, auf jeden Fall. Paragraph 203 im Strafgesetzbuch regelt die Strafbarkeit unbefugter Offenbarung von Geheimnissen, aber auch Ausnahmen der ärztlichen Schweigepflicht, etwa bei Gefahr für Leib oder Leben. Habe ich Kenntnis von Gefährdung, darf ein Patient nicht aus der Psychiatrie entlassen werden. Ist jemand akut gefährlich, müssen Ärzte es melden.
Was will Hessen zusätzlich regeln?
Das Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz (PsychKHG) verpflichtet behandelnde Ärztinnen und Ärzte bei Patienten mit einer Fremdgefährdung, die aus der Psychiatrie entlassen werden, eine Einschätzung zu geben: Könnte der Patient weiterhin ein Risiko für die Gesellschaft sein? Eine solche Prognose könnte dazu führen, dass man an die Behörden Fälle meldet, was man sonst nicht getan hätte.
Gab es ähnliche Vorstöße anderer Bundesländer?
Bayern hatte 2018 sein PsychKHG wegen des Widerstands von Opposition und Verbänden abgemildert beschließen müssen. Schließlich hatte die CSU verzichtet, eine Zentraldatei zur Erfassung sämtlicher zwangsweise in der Psychiatrie untergebrachten Patienten einzuführen. Unterbringungen werden im Meldeverfahren anonymisiert erfasst.
Kaum sei die elektronische Patientenakte, ePA, eingeführt, schon solle sie zweckentfremdet werden, monieren Kritiker.
Die ePA ist derart noch nicht im Spiel, im Fall zusätzlicher Regelungen könnte es aber dazu kommen. Deshalb gilt es, wachsam zu sein. Bei psychischen Erkrankungen ist bereits in der Kritik, dass andere Praxen diese Daten einsehen können. Im nachhinein wird ersichtlich, welche Institution sie gesehen hat. Es bleibt aber unpräzise: War es dort etwa die Praxishelferin oder der Arzt selber?
Was wäre denn aus Ihrer Sicht sinnvoll, präventiv politisch zu regeln?
Es gilt, Maßnahmen zur Bildung zu fördern, etwa zur gewaltfreien Kommunikation. Speziell für gewaltbereite Menschen gilt es Anlaufstellen einzurichten und Unterstützung anzubieten. Nicht um sie zu kontrollieren, sondern um ihnen Angebote zu machen.
Susanne Berwanger ist Vizepräsidentin des Berufsverbands Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP)
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