Ein Stück Himmel
Von Matthias ReicheltEine bekannte Fotografie von Wolfgang Krolow zeigt einen Seiltänzer von unten, der über ein den Hof einer Kreuzberger Mietskaserne überspannendes Seil balanciert. Die Wände mit dem abblätternden Putz zeugen davon, dass es sich um eine vernachlässigte Gegend handelt – Kreuzberg in den 1970ern. Der Blick der Kamera scheint sehnsüchtig der dunklen Enge gen Himmel zu entfliehen. Viele Gebäude sollten zwecks Spekulation abgerissen werden, was durch Hausbesetzer verhindert wurde. Hier wohnten Arbeiterinnen und Arbeiter, viele davon aus der Türkei angeworben, in viel zu kleinen, aber billigen Wohnungen, nebst studentischen Wohngemeinschaften, Punks und einer Boheme experimentierfreudiger Lebenskünstler. Der Fotograf schwamm wie ein Fisch im Wasser in diesem diversen Milieu, in dem nicht wenige der Überzeugung anhingen, dass es unsinnig sei, auf bessere Zeiten zu warten, statt sie sich zu erkämpfen.
Krolow, 1950 in Rheinland-Pfalz geboren, unternahm bereits mit 18 Jahren eine Reise, die ihn in den nahen wie fernen Osten führte. Nach abgebrochenem Kunststudium in Mannheim zog es ihn 1970 nach Westberlin, wo er sich anfangs als Arbeiter verdingte, bis er sich 1972 für ein Studium der »Visuellen Kommunikation« mit Schwerpunkt Fotografie an der Hochschule der Künste (heute UdK) bewarb, das er erst später antrat.
Seine Arbeit war sozialkritisch und diente oft journalistischen Zwecken, hatte aber auch eine hohe künstlerische Qualität. Ob er alte Menschen, Kinder oder Jugendliche in der Stadt fotografierte, den Häuserkampf, Demonstrationen gegen Sozialabbau, Berufsverbote, Rassismus und Faschismus dokumentierte – sein Interesse an den sozialen Lebensverhältnissen ist immer spürbar.
Krolow war Mitglied der Sozialistischen Einheitspartei Westberlins (SEW), er fotografierte für Zitty, Tip, Taz – und für die Parteizeitung Die Wahrheit. Letzteres wird in keinem der Texte des Buchs erwähnt. Für Krolow war der Kapitalismus keine hinnehmbare Tatsache. Dieser Auffassung, seiner visuellen Sensibilität und Empathiefähigkeit ist es zu verdanken, dass die türkischen Jugendlichen und Kinder wie auch Autonome, Hausbesetzer und Spontis ihm vertrauten und spürten, dass hier nicht der »Feind« fotografierte. Das galt sogar für die provokanten Punks, die Krolow zunächst argwöhnisch begegneten, bevor sie ihn am Ende doch akzeptierten, wie Andrea Schick sich in dem Buch liebevoll erinnert.
Als notorischer Raucher hielt Krolow auch ein Schlaganfall, der ihn ab 2005 an den Rollstuhl fesselte, nicht davon ab, dem Nikotin weiter zu frönen. 2019 ist Wolfgang Krolow gestorben. Die Berlin-Bilder seines fotografischen Werks sind hier und dort gezeigt worden, aber in der ganzen Bandbreite und thematischen Vielfalt auch aus anderen Ländern muss das hochinteressante Werk einer breiteren Öffentlichkeit erst noch bekanntgemacht werden. Dieses Buch, in dem manche Bildinformationen fehlen, kann nur ein erster Schritt sein. Ihm sollte möglichst bald eine historisch-kritische Retrospektive in einem Museum folgen.
Sigrid Heger, Andreas Homann, Rainer Wendling (Hg.): Kreuzberg die Welt: Fotografien von Wolfgang Krolow. Verlag Assoziation A, Berlin 2025, 280 Seiten, 44 Euro
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