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Aus: Ausgabe vom 19.07.2025, Seite 6 (Beilage) / Wochenendbeilage

Der Zungenredner

Das Prinzip der Unzugehörigkeit: Vor 35 Jahren starb der Filmemacher Sergej Paradschanow
Von Barbara Eder
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Sergej Paradschanow (9.1.1924–20.7.1990)

Der Kaukasus, das ist ein Ort der vielen Sprachen: Ein Klangkörper zwischen Tälern, Silben, Himmel und Meer, ein Zungengebirge am Übergang zwischen Europa und Asien. Über fünfzig Idiome fließen durch die Rinnen dieses Massivs, darunter Kistisch, Lesgisch, Mingrelisch, Aserisch, Georgisch, Armenisch und Russisch – ein Mehrsprachigkeitsexperiment mit Tiefenschichten und Überlagerungen. Das Echo springt nicht nur zwischen Felsen, sondern auch zwischen Idiomen – indoeuropäischen, turksprachigen und iranischen. Sie durchziehen Täler und Gedächtnisse – ein Vielstimmigkeitsprinzip, gerichtet gegen die monolinguale Ordnung der Macht. Wer gut genug hinhört, überhört den Klang des anderen nicht.

In der Satirezeitschrift Molla Nasreddin, von 1906 bis 1931 zwischen Tbilissi und Täbris zirkulierend, wurden sämtliche sprachpolitische Eingriffe in der Region mit beißender Ironie und spitzer Feder kommentiert. Das achtseitige Druckwerk, benannt nach einer orientalischen Schelmenfigur, verstand sich als Organ der Aufklärung und erschien in Aserisch, Persisch und Russisch zugleich. In Karikaturen aus den 1910er Jahren wurden Zungen zunehmend zum politischen Symbol: Sie ragen aus aufgerissenen Mündern, werden gezeigt, in fremde Rachen gestopft, gezogen wie faulige Zähne oder mit dem Skalpell herausgeschnitten. Zwei Vertreter der konservativ-nationalistischen Duma – jenes russischen Parlaments, das nach der Wahlrechtsänderung von 1907 mehrheitlich aus monarchietreuen Kräften bestand – vollziehen in einer der Bildfolgen eine einschlägige Operation: Ein Monarchist und ein Nationalist schneiden einem Aseri-Mann die Zunge ab und nähen ihm eine neue ein.

Bergzungen, das sind nicht bloß Sprechorgane in transkaukasischen Hochlagen, sie sorgen für polyphone Echos aus einer Welt, die mehrere Welten in sich trägt. Gemeint sind jene oft nur mündlich weitergegebenen Idiome, die sich zwischen Felswänden und Hirtentälern halten wie Moose in Ritzen. Zungen wie diese geraten der kargen Bedingungen wegen immer wieder unter Druck, doch sie haben einen schnellen Schlag. Sie sind nicht gemacht für die Sprachen der Formulare und Bürokratien, sondern für Lieder, Märchen, Flüche und Mythen. Eine Bergzunge spricht nicht um des Sprechens willen – sie spricht, um zu unterwandern. Was ihr der Klang, das war dem Filmemacher Sergej Paradschanow das Bild – nicht als bewegtes, sondern als stummes Tableau im Strom der Dinge.

Jean-Luc Godard bezeichnete Sergej Paradschanow als »Meister eines Tempels aus Licht und Farben«, Andrej Tarkowski sah in ihm einen Künstler, der sich der Zensur immer wieder entzog. Geboren am 9. Januar 1924 in Tbilissi, wuchs er als Armenier in der ehemaligen Hauptstadt der Transkaukasischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (TSFSR) auf – einer Metropole, in der Georgisch ebenso auf den Straßen zu hören war wie Idiome anderer Regionalsprachen. Mehr als die Hälfte der Bewohner von Tbilissi waren armenischer Herkunft, viele davon Nachgeborene des im Jahr 1915 durch das Jungtürkische Komitee an der armenischen Bevölkerung verübten Genozids. Seit der Gründung der TSFSR im Jahr 1922, die auf den von 1918 bis 1921 länderübergreifend existierenden demokratisch-föderativen Republikversuch folgte, waren Armenien, Aserbaidschan und Georgien Teilrepubliken eines gemeinsamen Bundesstaates innerhalb der Sowjetunion.

Paradschanow verstand sich nicht als Angehöriger einer ethnischen Minderheit, sondern als Kosmopolit aus dem Kaukasus. Sein Blick war kein gelenkter, seine Bilder keine Behauptungen – es waren eingefrorene Entwürfe, optische Irritationen, Bergzungenreden in Bildern, auf Zelluloid gebannt. In Georgien galt er als Armenier, in Armenien als Georgier. An der Filmhochschule in Moskau lernte er bei Igor Sawtschenko sein Handwerk, der als einer der wichtigsten Vertreter des ukrainischen Kinos galt. Aufgrund seines Nonkonformismus, der als Bedrohung für das sowjetische Kulturverständnis galt, wurde Paradschanow 1973 mit einem Arbeitsverbot belegt. Bis zu dessen Aufhebung im Jahr 1984 hielt er sich mit Gelegenheitsarbeiten und Antiquitätenhandel über Wasser. In seinem Haus in Tbilissi schlief er, ganz Spitzwegs armer Poet, mit Regenschirm über dem Kopf – das Dach war undicht, von oben tropfte es ins Innere.

Erhalten ist davon nicht viel. Paradschanows Haus in der Amaghleba-Straße wurde nach seinem Tod dem Verfall preisgegeben. Nach 1991 konnte das neue nationalistische Georgien mit seiner radikal offenen Haltung wenig anfangen – ein Armenier, der Georgisch sprach, Russisch schrieb, ukrainisch filmte und sich seinem Herkunftsland ebensowenig andiente wie der sowjetischen Führung. Nur ein Museum in der armenischen Hauptstadt Jerewan erinnert noch an den eigenwilligen Filmemacher – ein Haus voller Puppen, Stoffe, Tränenvasen und Glasaugen, in dem nichts gerade hängt, aber alles Sinn ergibt. Wer sich vom zentral gelegenen Tigran-Petrosjan-Schachhaus, benannt nach jenem armenischen Weltmeister, der von 1963 bis 1969 die Schachwelt strategisch dominierte, dorthin bewegt, wird den Logiktempel mit Turmfigur an der kahlen Fassade bald hinter sich lassen. Der Weg führt vorüber an Häusern aus sowjetischem Tuffstein, verläuft entlang der schattigen Bäume in der Moskowjan-Straße. Dort öffnen sich die Türen eines Hauses, das so wirkt, als wolle es jederzeit davonfliegen: das Sergej-Paradschanow-Museum.

Im armenischen Museum sind viele jener Collagen und Objekte zu sehen, die Paradschanow während der Zeit der Isolation und des Verstummens angefertigt hat, gemacht aus Pappe, Stoff, Papier: Eine Mona Lisa mit Träne im Augenwinkel, eine einarmige Puppe im Geigenrumpf, Blütenkelche aus Scherben an Drahtstielen – Verdichtungen wie diese wurden zu Substituten für jene Filme, die Paradjanow nicht drehen durfte. Darunter findet sich eine Cut-up-Montage mit Lenin-Foto, eingefasst in ein Amulett, das wie Tand vom Trödel wirkt. Das Bild des Revolutionsführers schwebt fotorealistisch über gezeichneten Ordnungshütern, die sich mit langen Fingern Zugriff auf eine collagierte Mutter-Kind-Dyade verschaffen. Nicht nur Spott, auch Überfülle kann entmachten – retrospektiv wirkt die zwischen Straßenlaterne und Samowar plazierte Sowjetikone wie ein entrückter Heiliger in dadaistischer Umgebung.

Wo andere inhaltliche und ästhetische Kompromisse machten, wählte Paradschanow das Paradox. Seine Filme waren keine Reaktion auf die sowjetische Zensur, sie reflektierten Bilder des von ihr befreiten Blicks. Zeitlebens kam er nie an, blieb immer der andere – ein armenischer Bürger aus Tbilissi und ein Filmemacher aus Moskau, der sich gemeinsam mit der ukrainischen Studentin Swetlana Schtscherbatjuk 1952 in Kiew niederließ. Wer den Preis für diese Unzugehörigkeit nicht kennt, der kennt die Geschichte des vergangenen Jahrhunderts nicht. Paradschanow zahlte ihn dreimal – unter Stalin, Leonid Breschnew und unter Juri Andropow. Im Sommer 1948 wurde er erstmals wegen des Vorwurfs der Homosexualität verhaftet, im Oktober verurteilt, aber im Dezember wieder freigelassen. Die weiteren Anlässe für seine Inhaftierungen waren ebenso grotesk wie wunderlich: Mal galt er als Spekulant, der unerlaubten Handel mit Diamanten und Ikonen betrieb, mal als Mystiker, der den Sozialistischen Realismus wie ein schlechtes Bühnenbild ignorierte. 1973 wurde er in Kiew zum zweiten Mal verhaftet – offiziell wegen Homosexualität. Inoffiziell: wegen eines Blicks, den niemand kontrollieren konnte.

Die Anklage lautete auf Paragraph 121 des sowjetischen Strafgesetzbuches: »Päderastie« – ein Deckwort für sexuelle Handlungen unter Männern, seit 1934 in der UdSSR unter Strafe gestellt; verurteilt wurde Paradschanow zu fünf Jahren Lagerhaft im Gefängnis von Dneprodserschinsk, damals Ukrainische SSR. Nicht wegen einer Tat, sondern wegen seines Tons. Paradschanow war keine Gefahr, weil er agitierte. Er war eine Gefahr, weil er wild dachte und seine Drehbuchskizzen nicht den Zensurbehörden vorlegte. Er galt, wie es in einem der Protokolle hieß, als »ästhetischer Dissident« – und die internationale Solidarität mit ihm war groß: Fellini, Godard, Tarkowski und andere protestierten gegen seine Inhaftierung, Yves Saint Laurent gelang es sogar, ihn auf Zeit freizubekommen. Paradschanow erhielt Einladungen zu Ausstellungen in Frankreich – und damit auch ein Stück Bewegungsfreiheit. Der französische Modemacher, mehr Pate als Freund, hat ihn als Baudelaireschen Vogel beschrieben, dessen übergroße Flügel ihn am Gehen hinderten. Und so flog Paradschanow vom Gefängnis aus zu neuen Orten. In Paris behandelte man seine Collagen aus der Haft wie Reliquien. Der Mensch dahinter war jedoch kein Metaphysiker, sondern ein avantgardistischer Realist des Mythos.

1982 wurde Paradschanow wegen angeblicher Beamtenbestechung in der georgischen Hauptstadt erneut verhaftet und verbrachte fast ein Jahr in einem georgischen Gefängnis. Seine erste Strafe, so betonte er, hätte er noch »im Namen des ukrainischen Nationalismus« abgesessen. Mit »Schatten vergessener Ahnen« war ihm 1965 von Kiew aus der Durchbruch gelungen. Gedreht wurde der Film in der Westukraine, im Gebiet eines alpinen Hirtenstamms in der Region Transkarpatien. Die Geschichte ist düster und ohne Trost, an hartem Realismus fehlt es ihr nicht: Die Liebesgeschichte von Iwan und Maritschka ist eingebettet in die archaische Welt des Bergvolkes der Huzulen, sie endet tragisch. Die Protagonistin stirbt bereits in der ersten Hälfte des Films, alles Weitere geschieht in der Erinnerung ihres Hinterbliebenen. Für »Schatten vergessener Ahnen« erfand Paradschanow ein Ochsenjochritual – und spannte die Liebenden in ein hölzernes Geschirr, das ansonsten nur Zugtiere miteinander verbindet. Was später als Tradition verbucht wurde, verdankte sich einem phantastischen Einfall, der sich in die Wirklichkeit einschrieb – ein magischer Realismus, der den sozialen erst bewirkte: Angehörige der Huzulen übernahmen Paradschanows Filmritual für weitere Hochzeitszeremonien.

Paradschanow erfindet Traditionen aus nächster Nähe und löst nationale Mythen damit aus dem vermeintlich Naturwüchsigen heraus – ein Umgang mit folkloristisch aufgeladenen Sagen und Märchen, der den ukrainischen Autoritäten zu konstruktivistisch erschien. Der Film »Schatten vergessener Ahnen« brachte Paradschanow in Misskredit, seine Kunst war offenbar zu viel: zu georgisch, zu armenisch und zu ukrainisch zugleich. In Reaktion darauf wurden 1966 die Dreharbeiten zu »Die Fresken von Kiew« untersagt – ein Kurzfilm ohne Erzählstruktur, dafür mit Ballett, Pantomime, Gesichtern im Wechselspiel von Bewegung und Starre. Keine Dialoge, kaum Musik – nur Körper, die sich durch den Raum schieben wie durch eine Geschichte, die ihnen nicht gehört. Die unter sowjetischer Führung stehende ukrainische Kulturbehörde reagierte prompt: zu mystisch, zu ästhetizistisch, zuwenig dialektisch. 1966 verlegte Paradschanow seinen Wohnsitz von Kiew nach Jerewan – ganz löste er sich von der ukrainischen Hauptstadt jedoch nie. 1969 stellte er in Armenien seinen vielleicht bekanntesten Spielfilm fertig: »Die Farbe des Granatapfels«, ein formal radikales Porträt des armenischen Troubadours Sayat Nova aus dem 18. Jahrhundert, das mit unkonventioneller Erzählweise und symbolischer Bildsprache die Grenzen des sowjetischen Kinos sprengte.

In dem Film gibt es ein Bild, das alles sagt: Ein Junge steht zwischen nassen Büchern auf den Dächern der Schwefelbäder von Tbilissi. Die Seiten flattern im Wind, sie stammen aus jahrhundertealten Manuskripten. Dabei handelt es sich um das Archiv der armenischen Geschichte. Das Bild des Kindes, das auf dem Dach zwischen den Büchern sitzt, ist das des Regisseurs: ein Bewahrer der Zungen. Zu Beginn des Films läuft der Saft eines Granatapfels gegen eine weiße Wand, tiefrot, fast schwarz. Es ist kein Blut und ruft doch den Tod herbei. Es ist kein Wein, und doch liegt darin die Verheißung des Rauschs. Der armenischen Ikonographie zufolge ist der Granatapfel ein Symbol für Fruchtbarkeit und Leben. Paradschanow lässt ihn ausrinnen wie die Zeit, die in seinen Filmen nur langsam verstreicht. Ein Moment dauert Minuten. Kein Schnitt, nur Farbe. In diesem Bild liegt der Kern von Paradschanows Kino: das Erzählen durch Dinge, nicht mit Worten. Ein Sprechen in Symbolen, die sich selbst genügen – und sich der Festlegung doch entziehen.

In seiner Philosophie des kinematographischen Bildes unterscheidet der französische Philosoph Gilles Deleuze zwischen Bewegungsbild und Zeitbild. Ersteres gehört dem klassischen Kino an – Handlung, Schnitt, Dramaturgie. Letzteres bewirkt das Stillstellen der Bewegung, das Einfrieren der Zeit im Bild. Sergej Paradschanow erzählte auf der Leinwand keine Geschichten, er schuf Imaginationsräume – und stand damit dem Zeitbild nahe. Ein Granatapfel, aus dem blutroter Saft tropft, ist ihm kein Zeichen, sondern ein Zustand. Auf der Leinwand erwartete man Dynamik und Bewegung, Paradschanow hingegen präsentierte dem Publikum den ins Endlose ausgedehnten Augenblick. Man wollte Handlung, er aber bewahrte Haltung – anstelle von Dialogen gibt es Zwischentitel, die Kameraeinstellungen bleiben oft statisch. Paradschanows Filme galten als entrückt, weil sie sich nicht beschleunigen ließen, doch genau darin liegt ihre Kraft: Ein Moment wird nicht erzählt, sondern aufbewahrt. So stellt man sich ein Kino vor, das nach dem Kino kommen könnte.

In »Kerib, der Spielmann«, Paradschanows letztem Spielfilm von 1988, wird der Protagonist zum Wanderer. Der Junge ist Jeside, sein Gang der eines Träumers. Die Waschszene, in der kaltes Wasser aus Kupferkrügen über seinen geschorenen Schädel fließt, ist ein ritueller Akt. Hier wird nichts gereinigt, sondern ein Körper geweiht – nicht pornographisch, sondern poetisch. 1975 schrieb Pier Paolo Pasolini in seinen »Freibeuterschriften«: »Im allgemeinen liebt und begehrt ein Homosexueller einen Heterosexuellen, dessen Heterosexualität jedoch nicht im Geringsten in Frage stehen darf.« Paradschanows Film folgt dieser ungleichen Logik des Begehrens: Der Zuschauer wird nicht überzeugt, er wird zu einem anderen Sehen verführt. Sein Verhältnis zu Pasolini war distanziert und doch eines der Nähe. Letzterer bewunderte Paradschanow für »Die Farbe des Granatapfels«, dieser wiederum war berührt von Pasolinis »Edipo Re«. Es war eine stille Komplizenschaft unter Außenseitern, die wussten, dass ihre Körper Projektionsflächen sind. Ihre Homosexualität war beiden nicht Pose, sondern Haltung.

Dass Paradschanow nach 1991 vorgeworfen wurde, mit »Ashik Kerib« – so der armenische Titel von »Kerib, der Spielmann« – einen »muslimischen Film« gedreht zu haben, ist eine alte Geschichte: Wer sich der nationalen Zuordnung entzieht, bleibt verdächtig. Der Stoff von »Kerib, der Spielmann« kommt aus der aserischen Bardentradition – der mündlich überlieferten Kultur der Aschugh, die sich als wandernde Sänger und Dichter verstanden. Gedreht wurde in Georgien und Aserbaidschan, nahe Baku und in der Umgebung von Scheki. Die literarische Vorlage stammt von Michail Lermontow, der die Legende 1837 in einer kurzen Prosafassung festhielt – ein orientalisches Märchen über einen fahrenden Sänger, das weniger vom Orient erzählt als vom russischen Blick auf ihn. Der Film mit Juri Mgojan, einem Laiendarsteller aus der Nachbarschaft, handelt gleichermaßen von Armeniern, Georgiern, Aseris, Persern und Jesiden. Paradschanow zufolge habe sein Darsteller sogar etwas zutiefst Römisches an sich. Für den Filmemacher hatten Ethnien keine Farben, keine Fahnen – eine Haltung, in der etwas Universales liegt. Der Kulturtheoretiker Hrach Bayadyan hat dies als notwendige Übergangsbewegung hin zu einem »Postsowjetisch-Werden« beschrieben – nicht mehr sowjetisch, aber auch nicht national. Gilles Deuleuze zufolge liegt darin der Zwischenraum, in dem »kleine Literaturen« gedeihen können. Paradschanow hat diesen mit filmischen Mitteln ausgelotet – und zugleich durch ihn hindurchgesehen.

In »Schibboleth. Pour Paul Celan« entfaltet Jacques Derrida zwei Deutungen dessen, was es heißt, beschnitten zu werden: durch einen körperlichen Einschnitt ebenso wie infolge eines sprachlichen Markers. Der Klang eines Wortes verortet jemanden, der spricht, in- oder außerhalb einer Gemeinschaft – darin besteht die Politik des Schibboleths. Im Spannungsfeld von Anrufung und Zurückweisung entsteht der andere in und durch den Sprechakt. Die gestutzten Zungen aus der Satirezeitschrift »Molla Nasreddin« durchziehen Sergej Paradschanows nahezu sprachloses, aber bildgewaltiges Werk: Zungen, die wie Fische an Haken baumeln. Münder, die versiegelt, verplombt, zugenäht sind. Bilder wie diese lassen sich als Schibboleth lesen – von einem, der nur an der Grenze jedweder Form von Zugehörigkeit existieren konnte. Der Widerstand gegen die daraus resultierenden Verstümmelungen kam mit einem Lächeln – und dem gezückten Skalpell eines Monteurs, der als ukrainischer Georgier aus Armenien zum Sowjetbürger wurde.

Ein Schibboleth ist ein Wort, an dem sich Zugehörigkeit oder Ausgeschlossensein entscheidet – je nachdem, ob jemand es aussprechen kann oder nicht. Die Beschneidung setzt direkt am Körper an – und wirkt auf ihn zurück. Am 20. Juli 1990 verstarb Sergej Paradschanow an den Folgen von Lungenkrebs und wurde auf dem staatlichen Friedhof von Jerewan beigesetzt. Die armenische Nation hat ihm zwar einen Stein gegeben, doch nicht seine Zuge – Dutzende seiner Drehbücher blieben zeitlebens unverfilmt. Eduard Schewardnadse, ehemaliger sowjetischer Außenminister und späterer Staatschef Georgiens, hat sich 1982 auf internationalen Druck für die Freilassung und Rehabilitierung Paradschanows eingesetzt. Er war kein Märtyrer, kein Heiliger, kein Revolutionär; er war ein Beschnittener, der in zu vielen Zungen sprach. Einer, dem man die Bewegungsfreiheit nahm – und der aus diesem Verlust heraus ein eigenes Universum schuf. Was bleibt davon, wenn nichts bleibt? Ein Zeitbild, das überlebt.

Barbara Eder ist freie Journalistin. Zuletzt erschien an dieser Stelle am 1./2. März 2025 Teil zwei ihrer Reportage, »Nicht zu kitten« – über Kriegsgerät

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