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Aus: Ausgabe vom 10.07.2025, Seite 7 / Ausland
Chile

Folterkolonie enteignet

»Colonia Dignidad«: Chiles Linksregierung unter Präsident Gabriel Boric beschließt Einrichtung von Gedenkstätte
Von Juliana Rivas und Jakob Reimann
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Besiegelt: Auf dem Gelände der ehemaligen »Colonia Dignidad« entsteht eine Gedenkstätte (Santiago, 7.7.2025)

Nach Jahrzehnten ein Schritt hin zur Gerechtigkeit: Die chilenische Regierung hat am Montag (Ortszeit) ein Dekret zur Enteignung von Grundstücken der ehemaligen »Colonia Dignidad« unterzeichnet, das im Ortskern der deutschen Siedlung – heute bekannt als Villa Baviera (»Dorf Bayern«) – auch die Einrichtung einer Gedenkstätte für die Opfer vorsieht. »Dies ist von Bedeutung für die Aufarbeitung der Geschichte und das gesellschaftliche Bewusstsein, für die Stärkung der Demokratie sowie den Schutz und die Förderung der Menschenrechte«, erklärte Justizminister Jorge Gajardo auf einer Pressekonferenz zum Dekret, das von seinem und auch vom Ministerium für Wohnungs- und Stadtentwicklung sowie dem für Staatseigentum der Regierung unter Präsident Gabriel Boric verantwortet wird. Die Colonia Dignidad »stellt einen markanten Meilenstein staatlichen Versagens im Bereich der Menschenrechte dar, der weit über die Zeit der zivil-militärischen Diktatur und der Post-Diktatur-Ära hinausreicht«, kommentierte Claudio Nash, Koordinator des Lehrstuhls für Menschenrechte an der Universität von Chile, in einem Interview mit Radio Universidad de Chile. »Seit Jahren kommen Berichte über äußerst schwerwiegende Vorfälle in dieser Enklave ans Licht, und bis heute hat sich der chilenische Staat letztlich entschieden, wegzusehen und keine Verantwortung für das Geschehene zu übernehmen – mit sehr tragischen Konsequenzen«, fügte Nash hinzu.

Die deutsche Sekte, übersetzt »Kolonie Würde«, wurde 1961 vom Bonner Laienprediger Paul Schäfer gegründet, der im Zweiten Weltkrieg als Sanitäter für die Wehrmacht in Frankreich gedient hatte. Schäfer floh damals nach Chile, nachdem die Bonner Staatsanwaltschaft einen Haftbefehl wegen zwei Fällen von im nahe gelegenen Siegburg vergewaltigten Jungen ausgestellt hatte. Internationale Aufmerksamkeit erlangte die »Colonia Dignidad« 1997, als Schäfer von Dutzenden Personen, die als Kinder in der Enklave gelebt hatten, wegen sexueller Misshandlungen beschuldigt wurde. Er floh und hielt sich in mehreren südamerikanischen Ländern versteckt, bis er 2005 in Buenos Aires verhaftet und von den argentinischen Behörden an Chile ausgeliefert wurde. Im Mai 2006 wurde der Geistliche dort der sexualisierten Gewalt gegen Kinder in 25 Fällen für schuldig befunden. Vier Jahre später starb er im Gefängnis, wobei das Berufungsverfahren nicht final abgeschlossen war. Schäfers rechte Hand, der Arzt Hartmut Hopp, wurde in Chile ebenfalls zu mehrjähriger Haft verurteilt, ebenfalls wegen sexueller Gewalt, doch auch wegen Beihilfe, da er Schäfer Kinder zugeführt hatte. Er tauchte unter, und die deutschen Behörden verweigerten die Auslieferung des ab 2011 von Interpol Gesuchten. Hopp wohnt mit seiner Frau, von den Behörden unbehelligt, in Krefeld.

Die »Colonia« kollaborierte mit der zivil-militärischen Diktatur unter Augusto Pinochet (1973–1990). Die abgeschottete Kolonie war Teil eines landesweit institutionalisierten Netzwerks von Orten, die zur Folter, zum »Verschwindenlassen« und zur Ermordung politischer Gegner des Regimes sowie anderer Zielpersonen genutzt wurden, und diente zudem als Waffenlager für das Militär. Die chilenische Vereinigung für Erinnerung und Menschenrechte Colonia Dignidad schätzt, dass mehr als 100 Menschen in der Enklave »verschwanden«. Das nun beschlossene Dekret legt die Enteignung von 117 Hektar des ehemaligen Geländes der »Colonia« fest. Ein Teil dieses Areals wurde bereits 2016 zum Nationaldenkmal erklärt und umfasst Gebäude, die direkt mit den Verbrechen der Sekte und der Pinochet-Diktatur in Verbindung stehen. Weitere Bereiche umfassen Orte, an denen Opfer mutmaßlich begraben wurden, ein Areal, in dem Leichen verbrannt wurden, sowie einen Bach, in dem die Asche verbrannter Körper entsorgt wurde.

Die meisten Opfer wie auch Täter der »Colonia« sind deutsche Staatsangehörige. Einige Täter flohen wie Schäfers rechte Hand Hopp nach Deutschland, um dort diplomatischen Schutz zu suchen. Die Bundesrepublik hat bis heute keinen einzigen Täter ausgeliefert oder rechtskräftig verurteilt; mehrere Verfahren wurden wegen angeblich fehlender Beweise eingestellt.

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