»Staat im Staate und Schlüsselakteur bei der Repression«
Sie sind seit den 1990er Jahren als Menschenrechtsaktivist daran beteiligt, die Verbrechen der Colonia Dignidad aufzuarbeiten. Was war die Colonia Dignidad?
Bei ihr handelte es sich um eine Gruppe von etwa 300 bundesdeutschen Staatsbürgern, die größtenteils zwischen 1961 und 1963 nach Chile ausgewandert waren. Ihr Anführer war Paul Schäfer, ein Laienprediger, der in der Nachkriegszeit bei der evangelischen Kirche als Leiter von Jugendgruppen beschäftigt war. Er wurde immer wieder entlassen, weil es Gerüchte über sexuellen Missbrauch gab, was allerdings dem damaligen Zeitgeist entsprechend unter den Teppich gekehrt wurde. Nachdem erstmals Strafanzeige gegen ihn gestellt worden war, begann er mit seinen Anhängern seine Flucht vor der deutschen Justiz zu planen. Die Wahl fiel auf Chile, wo ein Grundstück am Fuße der Anden erworben wurde, fast 400 Kilometer südlich der Hauptstadt Santiago.
Sie sprechen von einem »System Colonia Dignidad«. Was ist darunter zu verstehen?
Das System Colonia Dignidad bestand einerseits aus der Siedlung selbst, andererseits aus Unterstützungsstrukturen sowohl in Chile als auch in der BRD – in Politik, Wirtschaft und Militär. Die Colonia war ein Staat im Staate. Alles wurde über Kontakte geregelt, über ein Lobbynetzwerk in der Region und dann während der Diktatur bis hoch zu Pinochet und zum Geheimdienstchef Manuel Contreras. Das heißt: Einerseits war die Colonia Dignidad – wenn wir auf die Zeit der Militärdiktatur schauen – ein Schlüsselakteur bei der Repression. Andererseits war sie auch immer ein eigenständiger Akteur mit eigenen Interessen.
Bereits während der Regierungszeit von Salvador Allende begann die Führung der Colonia Dignidad, ein Bündnis mit Rechtsradikalen und Großgrundbesitzern der Region aufzubauen.
Vor der Diktatur war die Macht der Colonia bei weitem nicht so abgesichert wie unter Pinochet. Infolge einer Flucht aus der Siedlung 1966 geriet sie in die Schlagzeilen, auch international. Das war durchaus ein Moment, in dem sie gefährdet war. Die Reaktion war eine Ausweitung des Unterstützungsnetzwerks. Hinzu kam die von Allende angestrengte Landreform, von der auch die Colonia hätte betroffen sein können.
Wie sah die Vernetzung mit ultrarechten Gruppierungen aus?
Die Führung der Colonia Dignidad besorgte sich Waffen auf dem Schwarzmarkt in der Bundesrepublik, die dann nachgebaut wurden – Maschinengewehre, Handgranaten und andere Waffen und Waffenbestandteile. Auch an militanten Aktionen rechtsextremer Gruppen gegen die Allende-Regierung war die Colonia beteiligt. Die Gruppe Patria y Libertad wurde mit Waffen unterstützt. Die Siedlung wurde für militärische Trainings zur Verfügung gestellt.
Welche Rolle spielte die Colonia Dignidad bei den Vorbereitungen des Militärputsches gegen Allende?
Viele der späteren Putschisten haben die Siedlung besucht oder standen in Kontakt zu ihr. Es ist davon auszugehen, dass die Colonia Dignidad im Vorfeld vom Putsch wusste. Sie war daran beteiligt, Radio Agricultura in den Tagen vor dem 11. September 1973 militärisch zu befestigen. So wurde abgesichert, dass das Putschistenkommuniqué von dort ausgestrahlt werden konnte. Die Colonia stellte am Tag des Putsches und danach Leibwachen für führende Militärs.
Welche Funktion hatte die Colonia Dignidad für die Pinochet-Diktatur?
Sie stellte ihr Gelände zur Verfügung, ein sehr abgelegener und militärisch befestigter Ort. Das waren perfekte Bedingungen für einen irregulären Geheimdienst wie die Dina (Dirección de Inteligencia Nacional, jW), die mittels Terror und Entführungen, Verschwindenlassen, Folter und Mord agierte. In der Colonia Dignidad wurde ein Folterzentrum errichtet, es wurden Waffen- und Sprengstoffschulungen durchgeführt. Die Siedlung wurde zur Haft- und Verhörstätte für politische Gefangene. Und auch zur Tötungsstätte, in der schätzungsweise mehr als 100 Menschen ermordet wurden. Die Identität keiner dieser ermordeten Personen ist bis heute geklärt, sie gehören zu den mehr als 1.000 Verschwundenen der Diktatur. Außerdem verfügte die Colonia Dignidad über ausgefeilte technologische und Überwachungssysteme, die die Dina nutzte.
Blieb es bei der Unterstützung durch Technik?
Mit der Zeit wurde es für Pinochet schwieriger, sich über offizielle Wege mit Waffen zu versorgen. Die Colonia verfügte über Kontakte zu Waffenhändlern in der Bundesrepublik und anderorts, über die sie Geschäfte einfädelte. Eine Schlüsselfigur war der ehemalige SS-Mann Gerhard Mertins. In den 60ern gründete Mertins die Merex AG, die mit Überschusswaffen der Bundeswehr handelte. Mertins arbeitete auch für den BND unter dem Decknamen Uranus. Für die Colonia war er zentral, vor allem als Lobbyist. Zur Diktatur und insbesondere zum Dina-Chef Contreras unterhielt Mertins gute Kontakte. Die große Frage ist: Was hat er dem deutschen Geheimdienst berichtet? Bislang hat der BND quasi keine Akten zur Colonia Dignidad freigegeben.
In Ihren Forschungsarbeiten schreiben Sie, beim Fall Colonia Dignidad handle es sich um eine zwischenstaatliche Angelegenheit. Was ist damit gemeint?
Die Verbrechen der Colonia Dignidad waren einerseits interne Verbrechen gegenüber der eigenen Gruppe, andererseits handelte es sich um eine kriminelle Organisation, die nach außen gewirkt hat und beispielsweise mit den chilenischen Geheimdiensten kollaborierte. Die Straftaten wurden auf chilenischem Territorium begangen, allerdings waren die Täter deutsche Staatsbürger. Das hat zu einem Hin-und-Herschieben der Verantwortlichkeiten zwischen der BRD und Chile geführt, sowohl auf der Ebene der Justiz als auch auf der politischen.
Während die chilenische Untätigkeit zu Zeiten der Diktatur einfach zu erklären ist, herrschten in der BRD formal immer demokratische Verhältnisse.
Wichtige Teile der Union, insbesondere der CSU, sympathisierten mit Pinochet. Eine Militärdiktatur, die ökonomische Interessen des westlichen Lagers absicherte, war einer demokratisch-sozialistischen Regierung vorzuziehen. Solche Haltungen überwogen auch im Auswärtigen Amt. In den ersten Jahren der Pinochet-Diktatur kam aus der Botschaft der BRD in Santiago kein kritisches Wort zur Colonia, obwohl es diverse Hinweise auf Menschenrechtsverletzungen gab.
Spätestens ab 1977, als Amnesty International eine umfangreiche Broschüre mit Zeugnissen von Überlebenden der Folter herausgab und der Stern den Beitrag »Das Folterlager der Deutschen« veröffentlichte, waren die Verbrechen der Colonia Dignidad einem interessierten Publikum in der BRD zugänglich. Änderte sich in der Folge das Verhalten von Auswärtigem Amt und bundesdeutscher Botschaft in Santiago?
Der Botschafter stellte sich vor die Medien und sagte, das könne nicht sein, er sei dort gewesen und da gebe es kein Folterlager. Mindestens bis 1985 haben sich Botschaft und Auswärtiges Amt immer sehr zurückgehalten. 1984/85 flohen zwei Ehepaare aus der Colonia Dignidad und erstatteten umfangreich Bericht über die dort begangenen Verbrechen. Aufgrund dieser Berichte, vor allem aber als Ende der 80er das Ende der Diktatur absehbar war, wurde von Menschenrechtsverletzungen innerhalb der Colonia gesprochen und die Junta dazu aufgerufen, sie zu beenden. Das Auswärtige Amt bemühte sich jedoch stets, nicht zuzulassen, dass die Verantwortung dafür als eine westdeutsche gesehen wurde.
Am 11. September jährt sich der Putsch gegen Allende zum 50. Mal. Wie steht es um die Aufarbeitung der Verbrechen der Colonia Dignidad?
Deutschland ist zum sicheren Hafen für die Täter der Colonia Dignidad geworden. Das ist skandalös. Die Justiz der BRD ist den Verbrechen nie in angemessener Weise nachgegangen. Zwar wurden immer wieder Ermittlungsverfahren geführt, jedoch nie Anklage erhoben. Wäre die chilenische Justiz nicht tätig geworden, würden die Verbrechen der Colonia Dignidad rein rechtlich nicht existieren. Diese Straflosigkeit ermöglichte es, dass weitere Taten begangen wurden, weit über das formale Ende der Diktatur 1990 hinaus bis zur Verhaftung von Paul Schäfer 2005. 2016 hielt der damalige Präsident Frank-Walter Steinmeier eine bemerkenswerte Rede – eine Mea culpa, die jedoch sehr sanft formuliert war und nur moralische Verantwortung anerkannte. Trotzdem ist danach erst wenig passiert. Am historischen Ort der Verbrechen gibt es bis heute keine Gedenkstätte.
Interview: Frederic Schnatterer
Jan Stehle ist am Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika (FDCL) in Berlin tätig. Er forscht seit Jahren zum Thema Colonia Dignidad und setzt sich für die Aufarbeitung der dort begangenen Verbrechen ein. 2021 erschien seine Dissertation »Der Fall Colonia Dignidad – Zum Umgang bundesdeutscher Außenpolitik und Justiz mit Menschenrechtsverletzungen 1961–2020« im Transcript-Verlag.
Download unter: https://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-5871-2/der-fall-colonia-dignidad/
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