Ein Opfer der Diktatur
Von David Schidlowsky
Wie allgemein bekannt ist, starb der chilenische Dichter und Diplomat Pablo Neruda am 23. September 1973. Viele, die Neruda in seinen letzten Tagen in der Klinik begleiteten, wussten, dass er seit 1969 an Prostatakrebs erkrankt war. Während seiner Zeit als Botschafter in Frankreich hatte er sich zwei Operationen unterziehen müssen. Man ging daher davon aus, dass er an den Folgen der Krankheit gestorben war.
Manuel del Carmen Araya Osorio, Nerudas Sekretär, Chauffeur und Leibwächter, äußerte hingegen fast dreißig Jahre später in einem Interview mit der mexikanischen Zeitschrift Proceso (8.5.2011), dass Neruda mittels einer Giftinjektion ermordet worden sei. Man habe ihn daran hindern wollen, Chile zu verlassen und so zu einem der einflussreichsten Gegner des Pinochet-Regimes zu werden. Die Nachricht ging um die Welt. Die Kommunistische Partei Chiles reichte daraufhin eine Klage vor einem Berufungsgericht in Santiago de Chile ein, die am 31. Mai 2011 vom Strafgerichtshof in Santiago angenommen wurde.
Was für den Leser wie eine phantastische Geschichte aussehen mag, macht eine Prüfung der Vorwürfe trotzdem nötig, da es einen Präzedenzfall gibt: den von Eduardo Frei Montalva, chilenischer Präsident zwischen 1964 und 1970. Der hatte den Militärputsch im Jahr 1973 zunächst befürwortet in der Annahme, dass sich die Militärs nach einer kurzen Übergangszeit in die Kasernen zurückziehen würden und das Land rasch zur bürgerlichen Demokratie zurückkehren würde. Aber die Militärs hatten andere Pläne. Frei wurde dann einer der erbittertsten Gegner der Militärjunta. 1982 starb er nach einer Operation in der Klinik Santa María, in der auch Neruda starb. Fast drei Jahrzehnte glaubte man, dass Frei an einem septischen Schock gestorben sei, aber eine Untersuchung im Jahr 2009 stellte fest, dass Eduardo Frei vergiftet wurde. Agenten der CNI, der Nachfolgeorganisation der berüchtigten Dina (Leitung des Nationalen Geheimdienstes), hatten ihm eine Giftspritze in den Bauch verabreicht. Am 18. August 2023 hat der chilenische Oberste Gerichtshof dessen ungeachtet einstimmig den Freispruch der sechs zuvor wegen des Verbrechens verurteilten Personen verfügt und bestätigt, dass Frei lediglich an medizinischen Komplikationen verstorben sei. Unter den Richtern war auch die Juristin, die die Entscheidung im Fall Neruda zu fällen hat: Paola Plaza.
Unstimmigkeiten und Widersprüchlichkeiten in den Aussagen bezüglich des Todes von Neruda machten es der chilenischen Justiz schwer, zu einem eindeutigen Ergebnis zu kommen. Auch die Mitglieder der Familie Reyes (Nachkommen der Brüder des Dichters und andere Verwandte) waren sich nicht einig, wie weiter verfahren werden sollte. Über die Frage, ob die sterblichen Überreste des Dichters exhumiert werden sollten, kam es zu erheblichen Auseinandersetzungen zwischen den Erben, die in einem öffentlichen Streit mündeten.
Hinzu kam, dass der die Untersuchung leitende Richter Mario Carroza stets eine Absage erhielt, wenn er die Akten anforderte, mit immer der gleichen Begründung: Es lägen keine Akten vor.
Seit Dezember 2011 musste sich der Untersuchungsrichter mit einem neuen offiziellen Antrag des Rechtsanwalts der Kommunistischen Partei, Eduardo Contreras, beschäftigen, der eine Obduktion des Leichnams forderte. Die Pablo-Neruda-Stiftung und ihr Präsident Agustín Figueroa stellten sich gegen ein solches Anliegen. Im Februar 2013 ordnete Carroza schließlich an, dass die Leiche Nerudas zu exhumieren sei. Die Exhumierung fand am 8. und 9. April 2013 in Santiago de Chile statt. Es wurde eine Kommission von sechzehn Experten gebildet, die die Untersuchung vornehmen sollte.
Seitdem haben sich drei Gremien von Gutachtern und Sachverständigen mit dem Fall befasst. Die ersten Untersuchungen im Jahr 2013 ergaben, dass der Dichter an fortgeschrittenem Prostatakrebs litt und eine Vergiftung ausgeschlossen sei. Eine weitere Untersuchung des Leichnams erfolgte im Juli 2013. Am 8. November wurden auf einer Pressekonferenz in Santiago de Chile die Ergebnisse der Untersuchungskommission veröffentlicht. Sie besagen, dass es nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft keinen Nachweis dafür gibt, dass Pablo Neruda ermordet worden sei. Die Kommission stellte außerdem fest, dass die besonderen Umstände und die Zeitspanne, die seit dem Tod vergangen ist, keine eindeutige Aussage über die Todesursache zulassen. Deswegen haben sowohl der Untersuchungsrichter Carroza als auch der Leiter der Untersuchungskommission, Patricio Bustos, betont, dass die Frage einer möglichen Ermordung Nerudas weiter offen bleibt.
Im Jahr 2016 wurden nach einer Ehrung im Parlament die sterblichen Überreste des Dichters nach Isla Negra, südlich von Valparaíso, zurückgebracht. Weil aber die Fragen nach den Todesumständen Nerudas nicht nachließen, kam es bereits ein Jahr später erneut zu einer Untersuchung. Das daraufhin erstellte Gutachten hielt fest, dass die Todesursache nicht die im Totenschein angegebene Kachexie (Gewichtsverlust) gewesen war. Zudem wurde in einem Backenzahn ein Bakterium gefunden: Clostridium botulinum. Weitere Gutachten, die von einem kanadischen und einem dänischen Labor vorgelegt wurden, entstanden erst jüngst. Sie sollten klären, ob es sich bei dem entdeckten Bakterium um ein endogenes oder exogenes handelt, d. h. um ein solches aus dem eigenen Körper oder eben um eine biologische Waffe.
Eine internationale Expertengruppe übergab am 15. Februar 2023 die Ergebnisse dieser dritten Untersuchung sowie den Abschlussbericht über den Tod von Pablo Neruda an die neue Untersuchungsrichterin Paola Plaza. Diese verkündete daraufhin, dass die Experten keine Einigung erzielt hätten und die Ergebnisse nicht veröffentlicht werden könnten. Aufgrund des Todesdatums wird der Fall Neruda wie zahlreiche andere Fälle von Menschenrechtsverletzungen des Pinochet-Regimes auf der Grundlage des Justizgesetzes, das bis 2005 in Kraft war, als geheim eingestuft. Plaza prüft derzeit die Gutachten, die für die Richterin selbst nicht bindend sind. Sie hat vor der Presse lediglich geäußert: »Eine gerichtliche Entscheidung kann sich nicht einzig und allein auf ein einziges Beweisstück stützen (…). Der Bericht tritt nun in die Phase der Prüfung und Überarbeitung ein.« Fristen, bis wann das geschehen sein muss, gibt es nicht.
Einer der Gerichtsmediziner, die an der Exhumierung Nerudas beteiligt waren, der Baske Francisco Etxeberria, formulierte in einem Interview eine vielleicht salomonische Lösung, als er sagte, dass der Dichter, unabhängig davon, ob er vergiftet wurde oder nicht, als »Opfer des Militärputsches von 1973« anerkannt werden sollte. »Ohne den Militärputsch hätte Neruda ein paar Monate länger gelebt« und wäre sicher nicht am 23. September 1973 gestorben. »Der Putsch könnte der entscheidende Faktor sein, der seinen Tod herbeiführte.«
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