Rotlicht: Dialektik
Von Marc Püschel
Kein philosophischer Begriff wird so inflationär gebraucht wie »Dialektik«. Doch nur selten wird verstanden, welche Bedeutungsvielfalt dem Ausdruck zukommt. Das Wort leitet sich vom griechischen »dia« (durch) und »legein« (sprechen, reden) ab, »dialégesthai« bedeutet entsprechend »ein Gespräch führen«. Als »dialektikê epistêmê« (dialektisches Wissen) wird es erstmals bei Platon zu einem Fachterminus. In seinen Dialogen werden Meinungen vorgebracht und im Gespräch auf logische Widersprüche hin geprüft. Allgemein bezeichnet Platon mit Dialektik begriffliche Abgrenzungen und die Untersuchung ihrer Voraussetzungen. Klar formuliert ist das im »Sophistes«-Dialog: »Das Trennen nach Gattungen, dass man weder denselben Begriff für einen andern noch einen andern für denselben halte, wollen wir nicht sagen, dies gehöre zu der dialektischen Wissenschaft?«
Bei Aristoteles verschiebt sich die Bedeutung von einem begriffslogischen hin zu einem rhetorischen Sinn von »Dialektik«, weil er sie von der von ihm entwickelten formal-deduktiven Logik abgrenzen will. »Dialektisch ist dagegen derjenige Schluss, welcher sich aus glaubwürdigen Sätzen ableitet«, heißt es in seiner »Topik«. In Anknüpfung daran entwickelt sich die »ars dialectica«, die als Kunst der Gesprächsführung im Mittelalter zum Bildungskanon der sogenannten sieben freien Künste gerechnet wird und auch die Form des scholastischen Disputierens prägt. Bei Aristoteles wie in der Scholastik steht dabei weiter die Wahrheitssuche im Vordergrund – in Abgrenzung zur sophistischen Rhetorik, die ausschließlich darauf zielt, einen Gesprächspartner zu besiegen.
Eine andere Traditionslinie als die rhetorische ist die ontologische Dialektik. Sie lässt sich – in einer neuplatonischen Lesart – auch auf Platon zurückverfolgen, zeigt sich aber deutlicher bei Aristoteles. Ohne dass er dies ausdrücklich so bezeichnet, stellt Aristoteles in seiner »Physik« und »Metaphysik« heraus, dass die Welt dialektisch verfasst ist. So ist Seiendes immer die Einheit unterschiedener Bestimmungen, etwa von »eidos« (Form) und »hyle« (Materie).
Vermittelt über Immanuel Kant führte erst Georg Wilhelm Friedrich Hegel die logisch-diskursive und die ontologische Bedeutung konsequent zusammen. Sein System besteht in der Reflexion auf die Voraussetzungen von Begriffen, die sich – wenn sie expliziert werden – als Negation des Begriffs durch sich selbst fassen lassen. Schon das »Eine« kann nicht gedacht werden ohne das »Andere«, von dem sich das »Eine« abgrenzen muss, um verständlich zu werden. Somit bildet jedoch das »Andere« einen integralen Bestandteil des »Einen«. Beide definieren sich dadurch, dass sie sich gegenseitig negieren, oder anders: Die Gegensätze können nur in ihrer Einheit begriffen werden. Der Begriff gilt Hegel als das Wesen des Seienden, als das eigentlich Wirkliche gegenüber dem bloß zufälligen Dasein. Die Selbstbewegung des Begriffs ist so zugleich die Selbstbewegung der wahren Welt.
Hieran knüpfen Marx und Engels an. Gegenüber Hegel findet jedoch im dialektischen Materialismus eine Verschiebung statt. Für Hegel war Dialektik allein das negative Moment, worin ein Begriff in sein Gegenteil umschlägt. Das höhere, positive Moment der Einheit, in dem die widersprechenden Momente aufgehoben sind und aus der ein neuer Gehalt entspringt, nennt Hegel »das Spekulative«. Obwohl Marxisten, etwa Lenin in »Zur Frage der Dialektik«, immer betonten, dass Dialektik in der Einheit der Gegensätze bestehe, geriet der Spekulationsbegriff nahezu in Vergessenheit – zumindest bis Hans Heinz Holz ihn wieder rehabilitierte.
Der Unterschied hat durchaus auch politische Konsequenzen. So liegt etwa Maos »permanenter Revolution« der bloß negativ-dialektische Gedanke zugrunde, dass Bourgeoisie und Proletariat im Sozialismus nur den Platz tauschen. Spekulativ ist dagegen der Gedanke Ulbrichts, dass der Sozialismus – weil er den Widerspruch zwischen Bourgeoisie und Proletariat aufgehoben hat – eine neue Formation mit eigenen Widersprüchen sei.
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