Sag Stalin zu ihm
Von Sabine Lueken
Der Anruf kam kurz nach den »Tagesthemen«. »Carl, flieg morgen früh nach Berlin … fahr rüber in den Osten und bring uns die beste Story über den Mauerfall.« Spiegel-Redakteur Cordt Schnibben, äh, Spiegel-Redakteur Carl Lederer, Schnibbens Romanheld und Alter ego, fährt hin. »Seit die Leute da drüben zu Zehntausenden auf den Straßen marschieren, zieht Mara mit Spruchbändern durch meinen Kopf«, sinniert er. Er will Mara, die »Frau, die der Sozialismus (ihm) nicht gegönnt hat«, wiedersehen. Außerdem »kriecht« aus dem Staub der zusammenfallenden Mauer die Frage: Warum war ich mal Kommunist? Warum bin ich es nicht mehr?
So beginnt der 500-Seiten-Roman, in dem Lederer seiner Freundin Frances in machomäßig-belehrendem Ton in 31 Kapiteln sein Leben erzählt – meist am Autotelefon zur unrechten Zeit (»Soll ich dich … in Telefonsex reinquatschen?«). Neben Carls Abenteuern im erodierenden Ostberlin alternieren zwei weitere Handlungsstränge: seine Zeit als Teil der Bremer Schülerbewegung ab 1967 – mangels Universität riefen dort Schüler die »Revolution« aus – und seine Zeit als Student 1972/73 am Franz-Mehring-Institut in Berlin-Biesdorf, wo junge westdeutsche DKPler Marxismus-Leninismus vermittelten.
Carls wildes Leben beginnt mit dem Tod der Mutter, da ist er 15. Es folgen erfolgreiche Straßenbahnblockaden gegen Fahrpreiserhöhung und wilde Sexerlebnisse im LSD-Rausch. Hauptbeschäftigung seiner Clique ist »das Musikding«. Man debattiert lebenswichtige Fragen: Singt da Paul oder John? Welche Stones-Platte ist die beste? (»Let It Bleed«, Anm. d. Red.) Army-Parka oder Fliegerjacke? Wenn ein Mädchen gut tanzt, ist sie dann auch gut im Bett? Sein bester Freund Sigi nimmt Carl mit zum »Beat-Club«. Seit 1965 ist die TV-Show von Radio Bremen für Jugendliche in der ganzen Bundesrepublik ein Fenster in die Welt. Nachts hört Carl unter der Bettdecke Radio Caroline, Mick singt nur für ihn. Im titelgebenden Jazzclub »Lila Eule«, in dem viele Bremer Jugendliche politisiert wurden, ist er Stammgast. Dort gab es regelmäßig Diskussionen, etwa am 27. November 1967 mit Rudi Dutschke – ein legendäres Ereignis. Für Frances fasst Carl zusammen: »Du musst wissen, sich zu widersetzen gegen die Eltern begründete damals unseren Antifaschismus«.
Nach der Schule nimmt er seinen Nazivater beim Wort und geht »nach drüben«. In Berlin lernt er im »Haus der jungen Talente« Mara kennen, für ihn eine »Fraufraufrau«, die höchste Kategorie seiner »Frauenskala«. Sie ist – und bleibt – die einzige, bei der er »sich nicht beim Sex zuschau(t), wenn (er) mit ihr schläft«. Ansonsten schauen die beiden aber »wie Dolmetscher zweier Kulturen« aufeinander, »staunend, wenn wir etwas Gemeinsames fanden, (…) glücklich, wenn wir das Fremde zwischen uns verstanden«. Sie nennt seinen Schwanz »Stalin« und »ihre liebste Beschimpfung« ist: »Du redest wie Walter Ulbricht.« Drogen spielen in Carls Leben eine große Rolle, er versteht sie frei nach Timothy Leary als den »schnellste(n) Weg zum neuen Menschen«. Zusammen mit Karin aus seinem Internat hält er ein Referat über LSD, in dessen Verlauf die gesamte Zuhörerschaft durch das Trinken von Cola, die mit der Droge versetzt ist, in Rausch gerät. Das zum Schluss gespielte »Brüder, zur Sonne, zur Freiheit« bekommt so eine ganz neue Bedeutung. Für Carl folgen Ermittlungen, Verhöre in Untersuchungshaft, die den Beginn seines Abfalls »vom Glauben« markieren. Und letztendlich sein Rauswurf aus der DDR.
Im November 1989 zieht Carl auf der Suche nach Mara mit Anja, Heike und Ute – die Mädchen »wie Windhunde, die endlich rennen dürfen« – durch die Techno-Clubs in Ostberlin. Er fährt im BMW durch die Stadt, trifft sich mit Maras Großvater auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof und sinniert über Brecht und dessen Frauen. Er begegnet der ehemaligen Institutsleiterin »Genossin Anneliese« und Faye, der Frau mit dem Angela-Davis-Afro. Dabei erfährt er, was 1973 passiert ist. »Der Rest der Nacht? Ein lustiger Austausch über CIA, KGB, MfS, LSD.« Kann man das glauben? »Alles ist genau so passiert. Bis auf das, was so hätte passieren müssen«, versichert Schnibben.
Grafisch ist das Buch, das im Correctiv-Verlag (ja, der mit der »Remigration«) erschienen ist, von der Agentur Rocket & Wink gestaltet, inspiriert von den psychedelischen Projektionen des »Beat-Club«-Regisseurs Mike Leckebusch. Fiktive Stasi-Berichte von 1972/73 und 1989/90 (»Operative Informationen«), samt und sonders von Personen mit Nachnamen von Spiegel-Journalisten verfasst, dokumentieren das Tun von »LEDERER, Carl«. So kann man kapitelweise rätseln, wer von Carls Kontakten IM ist, etwa die »Hotelnutte« Claudia oder Reinhard, Maras Freund (»IM Mick«).
Viele Teile des Romans sind aus Schnibbens Spiegel-Reportagen recycelt, etwa die Treffen mit Markus Wolf. Irgendwann wiederholt sich alles: Sex, Drugs, Rock ’n’ Roll, Autofahrten, der kleine Block, der immer in der Gesäßtasche von Carls Jeans steckt. Es mangelt an der Durchgestaltung des Stoffs, an einer eigenen Sprache der Protagonisten. Frances bleibt vor allem eine Projektionsfläche für Carls Beziehungsprobleme. Trotz einiger lustiger Passagen und schöner Sätze versinkt der Roman immer mehr im Gelaber – die Frage »Was wurde aus Mara?« verpufft. Am Ende tauchen die alten Bremer Freunde wieder auf, wollen in Berlin eine große Techno-Sause (»Dancefloor-Sozialismus«) aufziehen. Zum x-ten Male im Roman steht die Grundsatzfrage zur Debatte: Muss sich erst der Mensch ändern, damit sich die Gesellschaft verändert – oder umgekehrt? »Wir haben die richtigen Fragen gestellt«, heißt es im Roman. Aber was ist mit den Antworten?
Cordt Schnibben: Lila Eule. Correktiv-Verlag, Essen 2025, 524 Seiten, 29 Euro. Beigefügt ist der QR-Code für eine Spotify-Playlist »Lila Eule« der im Roman vorkommenden Titel (ein Drittel Stones).
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