Geschenk des Himmels
Von Andreas Schäfler
Da ist er wieder, der eindringliche Klang dieses Instruments, der vom zitternden Seufzer eines Einzeltons unvermittelt in eine triumphale Breitseite scharfer Akkorde umschlagen kann und selbst kapriziösen Melodien und vertrackten Rhythmen die Schwere nimmt. Das Spiel auf dem Bandoneon lebt zudem, anders als bei den übrigen Mitgliedern der Ziehharmonikafamilie, entscheidend von den Begleitgeräuschen seiner filigranen Mechanik: Die wahren Virtuosen »atmen« mit der Druckluft im Balg und verarbeiten auch das perkussive Klappern der Knöpfe.
Und da ist auch wieder die seltsam vertraute Faszination des Tango, der die unscheinbare kleine Quetschkommode in ein kostbares Schatzkästchen verwandelt, sofern sich ein wirklicher Meister an ihr zu schaffen macht. Vor gut 100 Jahren eroberte dieser Musikstil von Argentinien und Uruguay aus in mehreren Wellen den Rest der Welt. Speziell in Europa, wo sein harmonisches Gerüst ursprünglich herstammt (und wo das Bandoneon 1845 von einem gewissen Heinrich Band in Krefeld erfunden wurde), kam er immer mal wieder in Mode und wurde in der Nachfolge von Astor Piazzolla als Tango Nuevo zu einem frühen Crossover-Phänomen. Da lockte eine bittersüße Bohemekultur mit viel Melancholie und Extravaganz – eigentlich das volle exotisch-erotische Programm: Auf dem Tenorsax zelebrierte Gato Barbieri freejazzige Habaneras, 1989 räumte Carlos Sauras »Tango«-Film (mit Musik vom jüngst verstorbenen Lalo Schifrin) ab, überall schossen Tangotanzstudios aus dem Boden, frustrierte Klassikprofis eiferten den virtuosen Solisten aus Südamerika nach, und fast jedes neue Label, das etwas auf sich hielt, hatte einen eigenen Bandoneonisten am Start.
Dino Saluzzi, in Piazzollas Urteil eines der größten Talente seiner Generation, war schon bei »Kultrum«, seinem ECM-Solodebüt von 1983, der stilistisch freigeistigste und wohl auch deshalb der gewandteste Geschichtenerzähler von allen. Er ging bald eine Vielzahl fruchtbarer Kollaborationen unter anderem mit Charlie Haden, Enrico Rava, Tomasz Stanko und John Surman, aber auch mit der Cellistin Anja Lechner ein, allesamt ebenfalls keine Puristen. Nun hat er sich als 90jähriger für »El Viejo Caminante« (»Der alte Wandersmann«) mit seinem Sohn José Maria Saluzzi und dem Norweger Jacob Young zusammengetan, die beide Gitarre spielen und auch eigene Kompositionen beisteuerten.
Ein Bandoneon, von zwölf Gitarrensaiten umgarnt – das erweist sich als sehr organisches und unerschöpfliches Triokonzept: Nach Herzenslust werden hier Tempi verschleppt und da wieder aufgeholt, werden Themen und Motive zerpflückt und in bestechenden Unisonopassagen frisch durchbuchstabiert. Saluzzis eigene Kompositionen bieten sogar eine kleine Werkschau: »Buenos Aires 1950« blendet in seinen Karrierestart beim Symphonieorchester von Radio El Mundo zurück, »Tiempos de ausencias« und »Y amo a su hermano« gehören schon ewig zu seinem Repertoire, und den titelgebenden, solo eingespielten »Wandersmann« darf man inzwischen als verschmitztes Selbstporträt verstehen. Zeitlos schön aber auch »Someday My Prince Will Come« und »My One and Only Love«, die sich erst mittendrin und eher beiläufig als Jazz-Preziosen zu erkennen geben.
Hat man übrigens jemals so streichelzarte Töne aus einer Fender Telecaster vernommen, wie sie Jacob Young hier dann und wann als Antwort auf eine Frage vom Bandoneon formuliert? Um dann aber gleich in eine geschmeidige Abercrombie-Phrase abzubiegen und den jungen Saluzzi zu einem klassischen Konter auf den Darmsaiten herauszufordern. Von Dino Saluzzis Höhenflügen auf dem Bandoneon kann man sich ohnehin weit über das Tangohoheitsgebiet hinaustragen lassen. Wenn sich beim Maestro hier überhaupt eine Alterserscheinung bemerkbar macht, dann ist es dieses Höchstmaß an künstlerischer Autarkie. Er ist und bleibt ein Solitär auf dem Bandoneon und ein Souverän der kreativen Gestaltungsfreiheit.
So geht es dahin auf diesem Album, mit einem Klangfarbenreichtum sondergleichen und weit über eine Stunde lang. Falls es Geschenke des Himmels überhaupt gibt – »El Viejo Caminante« könnte eins sein.
Dino Saluzzi: »El Viejo Caminante« (ECM)
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Torsten Andreas S. aus Berlin (9. Juli 2025 um 11:01 Uhr)Vielen, vielen Dank, Herr Schäfler, für diese Ermutigung! Hab sofort mein Bandoneon ausgepackt (repariertes Geschenk von Holger Weidauer) und ein paar Legenden vom göttlichen Astor Piazzolla improvisiert, denn meine Finger, abba wer kennt das nicht..? - Ab jetzt werde ich uns alle sehr viel öfter mit Tango Nuevo erfreuen – obs wohltut oder nich. Vielen Dank, Herr Schäfler!
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