Großes Theater
Von Thomas Salter
Viereinhalb Minuten, mehr braucht die britisch-nigerianische Rapperin Little Simz nicht, um ein perfektes kleines Theaterstück aufzuführen: Der Song »Blood« auf ihrem neuen Album »Lotus« entfaltet in Form eines Telefondialogs zwischen Bruder und Schwester ein Minidrama über emotionale Familiendynamiken, toxische Geschlechterrollen, eine ausbeuterische Musikindustrie und die damit verbundene Einsamkeit. Little Simz und ihr Featuregast Wretch 32 entwickeln in kürzester Zeit zwei vielschichtige Charaktere und tragen den Hörer gleich durch mehrere erzählerische Wendungen.
So weit, so konsequent: Rap hatte schon bei seiner Entstehung in den USA eine theatralische Qualität und eine große Nähe zur Schauspielerei. Die frühen MCs schlüpften für ihre Bühnenpersona in Rollen, viele Rapper erkannten in der Schauspielerei schnell eine lukrative Zweitkarriere: LL Cool J, Ice-T (»New Jack Hustler«, »Law and Order«), Ice Cube (»Boyz n the Hood«), 2Pac (»Juice«, »Poetic Justice«), Method Man (»The Wire«) – die Liste der sogenannten Rapper-Slash-Actors ist lang, und auch im Vereinigten Königreich erreichten die Grime-MCs Ashley Walters (zuletzt »Adolescence«) und Kane »Kano« Robinson mit der großartigen Dramaserie »Top Boy« (2019–2023) mehr Ruhm als am Mic. Aber bei Little Simz ist diese Synthese besonders elementar.
Schon mit 16 spielte die Londonerin in der BBC-Kinderserie »Spirit Warriors« (2016) eine Hauptrolle, da hatte sie gerade erst ihr Debütalbum »A Curious Tale of Trials + Persons« (2015) veröffentlicht. Mit ihrer Rolle als Shelley in »Top Boy« wurde sie als Schauspielerin international bekannt, parallel wuchs sie mit den Alben »Grey Area« (2019), »Sometimes I Might Be Introvert« (2021) und »No Thank You« (2022) zum globalen Rapstar heran.
2024 aber wäre es mit der MC-Laufbahn fast vorbei gewesen: Sie stritt sich mit ihrem Produzenten und Kindheitsfreund Inflo über Geld, zog sogar vor Gericht, und verlor damit quasi ihren Lieblingsregisseur, mit dem die schüchterne und sanfte Künstlerin sich ein geschütztes Setting aufgebaut hatte, in dem sie kreativ sein konnte. In einem Interview gab sie an, kurz davor gewesen zu sein, sich nur noch auf die Schauspielerei zu konzentrieren.
Aber zum Glück hat sie in Miles Clinton James einen neuen Regiepartner gefunden. Der Produzent baute für den neuesten Simz-Langspieler eine wunderbar abwechslungsreiche Klangkulisse. Als Opener: der Song »Thief«, großes Drama über eine zerbrochene Freundschaft (Inflo?), bei dem Live-Drums und -Bass sich an Simz’ Reime schmiegen. Bei »Young« schlüpft Little Simz in die Rolle einer britischen Brat und mimt eine unerzogene Teenagergöre, es klingt wie eine weibliche Version von Mike Skinner (The Streets). Bei »Hollow« erinnern die träumerischen Keys und Streicher an die Orchestration eines Hollywood-Musicals des Komponisten Richard Rodgers, ohne jeglichen Beat, wie auch »Peace« auf Schlagzeug verzichtet und mit einer Akustikgitarre mit viel Flanger und einem geloopten, verhallten Gesang der songgewordene Regentag ist.
Auf »Lion« und »Flood« wird es fast ein bisschen Nollywood – oder besser: Afrobeat, als Simz wie auf ihrem Hit »Point and Kill« (2021) den nigerianischen Sänger Obongjayar einlädt, dazu ein bisschen Saxophon, palmgemutete Funkgitarre, zack, hat man das Gefühl, in einem Club in Lagos Fela Kuti zu lauschen. Für »Free« verschlägt es einen eher nach Detroit, das Klavier und die soulige Gesangslinie erinnern trotz Bossa-Nova-Groove an Motown à la Marvin Gaye.
Die Konstante in dieser abwechslungsreichen Kulisse ist Little Simz’ sehr charakteristische Stimme: die Aussprache gleichzeitig stark gefärbt vom karibisch-afrikanischen Patois von Northlondon, aber dennoch unglaublich fein. Der Klang ein bisschen nasal und dünn, aber zugleich voller Emotionen und Nuancen. Die Flows vielseitig, doch immer der Erzählung dienlich. Sie reiht sich damit in die Riege brillanter britischer MCs ein, die inzwischen die US-Kolleginnen und -Kollegen (mit Ausnahme von Kendrick Lamar oder Doechii) in Innovation und Technik übertreffen, etwa Ocean Wisdom oder Dizzee Rascal. Es ist kein Wunder, dass Wu-Tangs Method Man in Interviews unwissenden US-Moderatoren begeistert Little Simz anpreist. Bei so viel Lob ist ein nächster Akt im Drama Little Simz quasi garantiert.
Little Simz: »Lotus« (Sony)
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