Das beste Gegengift
Von Martin Küpper
Als ich Erich Hahn und seine Frau Toni im Frühjahr das letzte Mal in Berlin-Friedrichshagen besuchte, gab er mir sein kleines Büchlein »Vom Sinn revolutionären Handelns« (1983) mit. Auf dem Cover ist ein Holzschnitt von Wolfgang Mattheuer mit dem Titel »Sisyphos behaut den Stein« (1973). Darauf sind vier Männer zu sehen, die Sisyphos dabei zuschauen, wie er aus einem Felsbrocken mit Hammer und Meißel eine geballte Faust fertigt. Offensichtlich bestimmt nicht mehr der Stein, was Sisyphos zu tun hat, sondern er ist im Begriff, ihn sich anzueignen – eine mühsame Arbeit, die er alleine und unter Beobachtung vollzieht.
In dem Bändchen sind Vorträge zur Sinnstiftung und zu Wertungsfragen versammelt, die exemplarisch für das Denken von Hahn sind. Anlässlich aktueller Fragen setzt er einen theoretischen Rahmen, in dem die Antworten zu suchen seien, ohne jedoch die Lösungen vorzugeben. Dafür spürt er aktuellen Tendenzen in den Gedanken von Mitstreitern und Gegnern nach, verknüpft sie mit Ideen von Marx und Engels. Die Vorträge wirken lebhaft – sie sind gut gealtert. Bereits in den 80er Jahren beutelten Sinn- und Wertkrisen die BRD-Gesellschaft, Intellektuelle versuchten, entgegenzusteuern. Ihr Lösungsansatz bestand – über alle politischen und ideologischen Unterschiede hinweg – darin, ein Umdenken zu initiieren, »ein neuer Mensch wird gebraucht, bei dem das Geistige den Vorrang vor dem Materiellen hat.«
Hahn betont, dass es in dieser Gemengelage wichtig sei, Positionen ausfindig zu machen, die in praktischen Kämpfen kollektive Auswege aus dem Kapitalismus aufzeigen. Um dies zu erkennen, eigne sich der Begriff »Sinn«. Mit ihm sei eine Eigenschaft menschlicher Tätigkeit bezeichnet. Sinn sei ein Begriff, der auf die Bewertung des Verhältnisses von Resultat und Zweck zielt. Je mehr beides übereinstimmt und je größer die positive Bedeutung des Resultats für den Tätigen und für das betreffende Kollektiv ist, in dem der einzelne wirkt, desto sinnvoller ist sein Tun. Wenn also von Sinnkrisen die Rede geht, muss die zugrunde liegende Perspektive deutlich werden. Ist es die der Herrschenden oder die der Beherrschten? Geht es um die Sorge um das reibungslose Funktionieren des kapitalistischen Alltags oder um die Verzweiflung über die »Sinnleere eigenen Handelns«, weil das Band zwischen Zweck, Mittel und Resultat sowie zwischen Individuum und Kollektiv zerschnitten ist?
Nach Hahn ist die Erfahrung der Beherrschten objektiv zu erfassen – und es sind praktische Schritte zu ihrer Überschreitung zu unternehmen. Dies sei das beste Gegengift gegen die auch unter Linken immer wieder zu hörende »Empfehlung, auf Fortschritt zu verzichten, der Vernunft zu entsagen und sich in die Vereinzelung zurückzuziehen«. Hahns Position gründet tief in Marx’ Werk, das er sich u. a. mit Hilfe seines Lehrers Wolfgang Heise während des Studiums aneignete.
Anders als in seinem Wikipedia-Artikel behauptet wird, hat Hahn keineswegs »wiederholt die Werke Stalins zu den Klassikern des Marxismus-Leninismus« gezählt. Diese Behauptung wurde aus der Dissertation von Stefania Maffeis abgeschrieben. Als Quelle gibt die Autorin ein Rundtischgespräch von Philosophen anlässlich des bevorstehenden 40. Jahrestages der DDR an. Hierin diskutiert die Generation, die die Disziplin institutionell und inhaltlich maßgeblich mitgeprägt hat. Mit von der Partie sind Manfred Buhr, Wolfgang Eichhorn, Herbert Hörz, Dieter Wittich, Jörg Schreiter und eben Erich Hahn. Ein Blick in das Gesprächsprotokoll zeigt, dass Hahn keine Lobeshymne auf Stalin anstimmt. Er berichtet vielmehr, dass er zu Beginn der 50er Jahre erstmals mit Philosophie in Berührung kam – in Form von Stalins »Kurzem Lehrgang«, einem der am häufigsten gedruckten Bücher des 20. Jahrhunderts. Anschließend kritisiert er die »Stalinschen Vereinfachungen«, die auch im gesellschaftswissenschaftlichen Denken der 50er/60er Jahre negative Auswirkungen gehabt hätten. Zugleich betont er, dass die Schriften von Marx und Lenin während der 50er einen viel höheren Stellenwert in der Ausbildung besaßen und dass das sich entwickelnde philosophische Denken in der DDR keineswegs mit dem Stalins gleichzusetzen sei.
Andere Kritiker, insbesondere aus dem linken Spektrum, werfen Hahn hingegen Revisionismus vor. Der Grund: Er nahm in den 80er Jahren neben Otto Reinhold an allen sogenannten Grundsatzgesprächen zwischen SED und SPD teil. In diesen stritten Vertreter beider Parteien über theoretische Fragen mit erheblicher politischer Relevanz, die durch die erneute Rüstungsspirale aufgeworfen wurden: Arbeit, Menschenbild, Frieden, Neokolonialismus, Fortschritt und Menschenrechte. Das wichtigste Ergebnis dieser Zusammenkünfte war das im Jahr 1987 veröffentlichte Dokument »Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit«. Es ist ein Kompromisspapier, das die Handschrift beider Seiten trägt. Linke Kritiker waren der Meinung, dass Kommunisten nicht mit dem »Erzfeind« sprechen sollten, da man letztlich zuviel von der eigenen Substanz preisgäbe und somit den eigenen Verfall offenlege. Diese Position erhielt nach 1989 Aufwind. Hahn versuchte dagegen über die Widersprüche, Hoffnungen und Illusionen des Dialogs aufzuklären, an dessen Horizont das Ende des großen Schismas der deutschen Arbeiterbewegung hätte stehen können. Bis heute hat er die einzige Monographie zum Dialog der Parteien verfasst.
In seinem Buch beschreibt sich Hahn als »Ideologe, Gesellschaftstheoretiker und Philosoph, historisch bewegter Zeitzeuge und natürlich Vertreter einer der beiden miteinander streitenden Seiten«. Zwischen diesen Rollen changierte er sein Leben lang, musste immer wieder den Drahtseilakt zwischen politischen Anforderungen und wissenschaftlichen Herausforderungen meistern. Eine Aufgabe, die er mit »Leib und Seele« auf sich nahm.
Am 24. Juni ist Erich Hahn im Alter von 95 Jahren verstorben.
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