Das Entsetzliche fassen
Von Arnold Schölzel
In der BRD-Geschichtspolitik spielten die Millionen nichtdeutschen und nichtjüdischen Opfer des faschistischen deutschen Besatzungsterrors kaum eine Rolle. Der verlogene und revisionistische Umgang des offiziellen Berlins mit Gedenktagen wie dem 8. und 9. Mai kann sich darauf stützen. Daran hat der Beschluss des Bundestages von 2020, in Berlin ein Dokumentationszentrum zur deutschen Besatzung in Europa zu errichten, kurz oft als »Besatzungsmuseum« bezeichnet, bisher nichts geändert.
Ein kleiner aufklärerischer Beitrag ist nun im Deutschen Historischen Museum (DHM), das mit der Realisierung des Dokumentationszentrums beauftragt wurde, zu besichtigen: Die Exposition »Gewalt ausstellen: Erste Ausstellungen zur NS-Besatzung in Europa 1945–1948«. Informiert wird über sechs Schauen in London, Warschau, Paris, Liberec, Bergen-Belsen und noch einmal Warschau. In ihnen wurde seit dem Mai vor 80 Jahren versucht, das Entsetzliche des kontinentweiten Völkermordes – insgesamt lebten etwa 230 Millionen Menschen unter deutscher Besatzung – zu fassen. Die Auswahl folgte Kriterien wie Ausstellungsumfang, Publikumsresonanz und Erhaltungszustand der damaligen Exponate. Das Jahr 1948 ist deswegen Endpunkt, weil – so DHM-Chef Raphael Gross im Katalog – »das transnationale Bestreben, die Gewaltereignisse zu dokumentieren, zu sammeln und auszustellen fast schlagartig« mit dem Kalten Krieg abgebrochen sei. Der Bruch prägt noch die DHM-Ausstellung: Die Sowjetunion oder das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen in Deutschland kommen in ihr nicht vor, obwohl – wie die Ausstellungsmacher bei ihrer Pressekonferenz am 21. Mai auf Nachfrage einräumten – es auch in der Sowjetunion damals Ausstellungen zum Themenkomplex gab. Die Deutungskluft zeichnete sich aber schon damals ab. Dem Katalogtext der Fotografin Janina Struk ist zu entnehmen: »In den westlichen Medien war kaum über die Befreiungen von Lagern durch die Sowjetarmee berichtet worden, auch nicht über die Befreiung der Vernichtungslager Majdanek bei Lublin im Juli 1944 – von der BBC als ›russischer Propagandatrick‹ bezeichnet – und Auschwitz-Birkenau im Januar 1945. Beide Ereignisse wurden in der britischen Presse mit wenigen Sätzen abgetan.« In der britischen und der US-Öffentlichkeit, d. h. in zwei nicht besetzten Ländern, habe sich so der Eindruck verfestigen können, die faschistischen Greueltaten »hätten sich auf die Lager in Westeuropa beschränkt«.
Ähnliches gilt für den NATO-Mythos plus die Trump-Halluzination, die Westalliierten und vor allem die USA hätten die entscheidende Rolle beim Niederringen des deutschen Imperialismus gespielt. Die Ursprünge solcher Legenden lassen sich indirekt schon in der ersten hier dargestellten Schau »The Horror Camps« in London entdecken: Für sie öffnete der Daily Express, der seit dem 19. April 1945 täglich Bilder aus dem von der britischen Armee befreiten Konzentrationslager Bergen-Belsen veröffentlicht hatte, seinen Reading Room. Es bildete sich eine lange Warteschlange, bis Januar 1946 sahen Hunderttausende auch in anderen britischen Städten die Aufnahmen. Struk kommentiert: »Die Flut an Greuelbildern, mit denen die Öffentlichkeit konfrontiert wurde, klärte sie weder über die Funktion der Lager noch über die Identität der Insassen auf.« Es ging um Schock, nicht um Einsicht.
Mit gesellschaftlichen Ursachen der in den Krieg integrierten Verbrechen befassten sich aber auch die ersten Ausstellungen aus besetzten Staaten nicht. Die am 3. Mai 1945 im polnischen Nationalmuseum eröffnete Schau »Warschau klagt an«, die später in Westeuropa zu sehen war, zeigte mitten in den Trümmern der Stadt zwar vor allem deren Zerstörung, aber auch Perspektiven des Wiederaufbaus. Die im Juli 1945 im Pariser Grand Palais eröffnete Exposition »Hitlers Verbrechen«, die später auch in die französische Besatzungszone Deutschlands wanderte, stellte Frankreichs Geschichte in den Vordergrund, aber die Sowjetunion, Polen und Griechenland leisteten zu ihr eigene Beiträge. Die Naziverbrechen in Böhmen und Mähren wiederum standen im Mittelpunkt der seit 1946 im ehemaligen Haus des Gauleiters Konrad Henlein eingerichteten »Gedenkstätte der Nazibarbarei« in Liberec. Die von Juli bis November 1947 in Bergen-Belsen gezeigte Ausstellung – dort lebten noch etwa 11.000 jüdische Menschen in einer ehemaligen Wehrmachtskaserne unweit des früheren Konzentrationslagers – »Undzer veg in der frayheyt« bot eine Rückschau auf die jüdische Geschichte, forderte aber auch von der britischen Besatzungsmacht, die auch Mandatsmacht in Palästina war, »ein neues Leben in Erez-Israel«. Im April 1948 schließlich begann in Warschau zum fünften Jahrestag des Aufstands im jüdischen Ghetto unter dem Titel »Martyrium und Kampf« eine Schau, die »nahezu alle damals zugänglichen Zeugnisse des Holocaust« (Marta Kapelus im Katalog) versammelte.
Die DHM-Ausstellung kann ein erster Schritt auf einem langen Weg sein.
»Gewalt ausstellen: Erste Ausstellungen zur NS-Besatzung in Europa, 1945–1948«, Deutsches Historisches Museum (Pei-Bau), Unter den Linden 2, 10117 Berlin, bis 23. November 2025
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