Eine neue Welt erschaffen
Von Alexander Kasbohm
Die Musik auf »Squeeze Me« »elektronisch« oder »elektronische Musik« zu nennen, wäre Quatsch. Es ist, wie immer bei der in Hamburg lebenden US-Musikerin Sophia Kennedy, ein durch und durch organisches Werk. Selbstverständlich voller neuester Technik und Techniken, die aber immer im Dienste eines Soundbilds stehen, das natürlich klingt. Nein, eher übernatürlich. Die Kontraste sind schärfer, die Farben farbiger, manche kommen einem irritierend unbekannt vor.
»Squeeze Me« ist ein Album mit Myriaden von Klangverweisen in jedem einzelnen Song. Verweise, die so subtil Assoziationen erzeugen, dass man überhaupt nicht merkt, wo sie herkommen. Man könnte jeden Song zerlegen, nach Beweisstücken fahnden, die prompt in Hülle und Fülle vorhanden sind. Aber man möchte das gar nicht, weil dieses freundliche ADHS besser wirkt als jede Droge. Jeder Song ein klangliches Multiversum. Dass das alles mit so traumwandlerischer Selbstverständlichkeit zusammenhält, grenzt an Magie. Chansons alter Schule im R&B-Gewand. Zoomt man hinein, entpuppen sie sich als avantgardistische Kunst. Faszinierend und kaleidoskopisch. Der in sich vollkommen schlüssige Irrsinn, den Sophia Kennedy mit ihrem Partner Mense Reents auf Soundebene entwickelt, hat keine erkennbaren Vorbilder, ist eine Schöpfung, so charakteristisch und eigensinnig, dass man sich fragt, warum US-Producer noch nicht versucht haben, sie nachzubauen. In gewisser Weise ähnelt das inspirierte Soundgebastel dem von Björk – ohne den Lattenschuss. Kennedys Gesang klingt erdig, er changiert zwischen selbstbewusster Weiblichkeit und der Androgynität einer Grace Jones.
Kennedys Songwriting ist, if anything, noch poppiger und eingängiger (also besser) geworden, als es bereits war. Man hört, dass die Stücke ihren Ursprung am Klavier haben, bevor sie im Science-Fiction-Labor ausgearbeitet wurden. Diese Grundlage im »klassischen« Handwerk scheint mir ein wichtiger Aspekt des Old-School-Nachtklub-Charmes zu sein, den das Album bei aller Hypermodernität verströmt. In seiner stilistischen Substanz ist es fast so divers wie an seiner irisierenden Oberfläche.
»Squeeze Me« ist eine Fahrt durch eine Stadt mit Besuchen geheimer Orte, Sophia Kennedy die Künstlerin, die man unerwartet spät nachts im versteckten »Upstairs Cabaret« entdeckt. Ein cyberpsychedelisches Erlebnis, in dem ein Saxophonist, der aussieht wie der junge Brian Eno, plötzlich aus einem Wandgemälde tritt und für die Länge eines Songs die Sängerin begleitet. Und wo Brian Eno schon mal da ist, anbei der obligatorische Hinweis, dass die assoziative Arbeitsweise am Sound an den ganz frühen, im besten Sinne amateurhaft-neugierigen Eno erinnert. Wenn auch mit völlig anderen Ergebnissen. Sich die Amateurhaftigkeit (also etwas aus Liebe zu der Sache zu tun, im Gegensatz zum professionell-routinierten) zu erhalten, wenn man bereits Skills auf höchstem Niveau hat, schaffen die wenigsten.
Sophia Kennedy und Mense Reents arbeiten am klanglichen Äquivalent zum literarischen »World Building«: Sie erzeugen eine nachvollziehbare, fühlbare Welt. Verschieden von der Wirklichkeit da draußen ist diese Welt sehr wohl, fühlt sich aber ungeheuer real an und wird so für die Dauer des Albums zur eigenen.
Sophia Kennedy: »Squeeze Me« (City Slang/Rough Trade)
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