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Aus: Ausgabe vom 27.05.2025, Seite 4 / Inland
Repression gegen Palästina-Bewegung

Rechtsprechung nicht auf Linie

»From the river to the sea« laut Landgericht Berlin I doch nicht strafbar
Von Niki Uhlmann
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Wer von seiner Meinungsfreiheit Gebrauch macht, wird dafür vom Staat immer häufiger belangt. So warf die Staatsanwaltschaft Berlin einer Aktivistin vor, die Parole »From the river to the sea« auf der Demo anlässlich des internationalen Frauenkampftags 2024 angestimmt zu haben. Damit habe sie gegen Paragraph 86 des Strafgesetzbuchs verstoßen. Der untersagt das »Verbreiten von Propagandamitteln verfassungswidriger und terroristischer Organisationen«. Diesen Vorwurf befanden zwei Gerichte indes als »unbegründet«, wie aus Urteilen hervorgeht, die jW am Montag vorlagen. Noch machen sich einige Juristen die seitens Gesetzgeber, Regierung und Vollstreckern forcierte Staatsräson nicht zu eigen.

»Spätestens durch die Verfügung des Bundesinnenministeriums vom 2. November 2023« sei besagte Parole der Hamas zuzuordnen, die von der EU als »Terrororganisation« gelistet wird, heißt es seitens der Anklage. Die Staatsanwaltschaft übernimmt somit unkritisch die Lesart der Regierung. Selbst bei »voller Beweisbarkeit« erfülle der »angeklagte Sachverhalt« aber nicht die »tatbestandlichen Voraussetzungen« für eine Strafe, widersprach das Amtsgericht Tiergarten im November 2024.

Die Parole sei erstens »nicht ausschließlich« der Hamas zuzuordnen, »sondern schon länger gleich mehreren palästinensischen Organisationen«. Zweitens wäre sie, selbst wenn eine eindeutige Zuordnung vorgenommen werden könnte, im vorliegenden »konkreten Fall vom Grundrecht der Meinungsäußerungsfreiheit (…) gedeckt«. Wie »jede andere Propagandaparole« sei auch diese »auslegungsbedürftig«.

Durchaus könne die »geforderte geographische Ausdehnung« Palästinas so interpretiert werden, dass es »dann keinen Staat Israel mehr geben kann«, dass das Existenzrecht Israels im Sinne der Hamas »verneint« würde. Im Rahmen der Frauentagesdemonstration könne die Äußerung allerdings genauso als »schlichte Bekundung des Mitgefühls für die zivilen Opfer« und als »Aufruf, den langjährigen Konflikt für das Gebiet zu lösen«, verstanden werden. Immerhin habe die Eskalation zum Zeitpunkt der Äußerung zu »einer schwierigen humanitären Lage im Gazastreifen« geführt.

Letztlich sei die »Bewertung der Meinung« aber im Rahmen der Meinungsfreiheit »unerheblich«, einzig relevant hingegen, dass die Angeklagte auf »ihre Meinung hinweisen« wollte. Finales Urteil: »Es ist sozialadäquat, im Rahmen einer öffentlichen Kundgebung in diesem Kontext die Situation der bis heute fehlenden Autonomie Palästinas zum Gegenstand der öffentlichen Meinungsbildung zu machen.« Auch Billigung von Straftaten und Volksverhetzung lägen nicht vor.

Die Staatsanwaltschaft war nicht überzeugt. Die Regierung hatte ja etwas anderes verfügt. »Ob der Ausspruch ›From the river to the sea‹ ein Kennzeichen der Hamas« sei, »ist in der Rechtsprechung und Literatur umstritten«, holte das Landgericht Berlin I die staatstreuen Kläger im April auf den Boden der Wissenschaft zurück. »Die angefochtene Entscheidung entspricht der Sach- und Rechtslage«, gab es dem Amtsgericht und der Angeklagten letztinstanzlich recht. Es könne nicht jede Parole, die auch verbotene Organisationen nutzen, zum »charakteristischen Identifikationsobjekt« derselben verklärt werden. Bei »mehrdeutigen Äußerungen« habe die Meinungsfreiheit Vorrang.

Da bislang kein Urteil des Bundesgerichtshofs vorliege, dürfte vorerst nicht final geklärt werden, ob der Slogan »From the river to the sea, Palestine will be free« strafbar sei oder nicht, wusste Legal Tribune Online (LTO) im März. Es herrscht also Rechtsunsicherheit. »Völlig unterschiedlich« sei in Verfahren verschiedener Amt-, Land- und auch Verwaltungsgerichte entschieden worden, bestätige Timo Winter, Verteidiger der Angeklagten im vorliegenden Fall. So habe eine Staatsschutzkammer des Landgerichts Berlin die Parole im November 2024 als strafbar eingeordnet. Er begrüßte die jüngere »gegenläufige Entscheidung« der anderen Kammer: »Das beweist ganz klar, dass diese Parole nicht strafbar ist, sondern eine jahrzehntelange Tradition in der palästinasolidarischen Bewegung weltweit hat, die nicht verboten werden darf.«

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