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Aus: Ausgabe vom 27.05.2025, Seite 8 / Inland
Neues Wahlrecht in NRW gekippt

»Die ›Kleinen‹ sollten noch kleiner gehalten werden«

NRW: Verfassungsgericht kippt neues Kommunalwahlgesetz. Novelle hätte Opposition benachteiligt. Ein Gespräch mit Sascha H. Wagner
Interview: Henning von Stoltzenberg
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Am 20. Mai wurde das neue Kommunalwahlgesetz vom nordrhein-westfälischen Verfassungsgerichtshof kassiert. Das Gesetz, das im vergangenen Jahr von CDU, SPD und Grünen verabschiedet wurde, verstoße gegen das Prinzip der Chancengleichheit, entschied der VerfGH. Welche Auswirkungen hätte die Novelle gehabt?

Der Wesenskern des Gesetzes war, das Auszählungsverfahren so zu verändern, dass künftig bei der Frage von Mandatszurechnungen eher abgerundet als aufgerundet wird. Das beabsichtigte Sitzverteilungsverfahren hätte kleinere Parteien systematisch benachteiligt, weil bei mathematischen Aufrundungen die Zusatzsitze ausschließlich den größeren Parteien zugeflossen wären. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Das neue System hätte dadurch eine Abkehr von dem zuvor allgemein als ausgewogen beschriebenen System bedeutet, bei dem es mehr oder weniger zufallsabhängig war, ob einer Partei »Rundungsglück« oder »Rundungspech« zuteilwurde. Der Verfassungsgerichtshof ist wie wir der Auffassung, dass damit ein bestehendes Ungleichgewicht nicht nur nicht beseitigt, sondern sogar verstärkt worden wäre. Das war somit eine Vollklatsche für die Landesregierung unter Ministerpräsident Hendrik Wüst, CDU, und seinem »grünen« Koalitionspartner.

Oft geht es um geringe Unterschiede bei den Prozentwerten. Welche Auswirkungen haben die für die parlamentarische Praxis?

Für kleinere Wählergruppen ist die Nachkommastelle ganz entscheidend bei der Frage, ob ein Fraktions- oder Gruppenstatus erreicht wird. Damit sind weitreichende Rechte für die künftige kommunalpolitische Arbeit verbunden. So ist es zum Beispiel entscheidend, ob man mit einer gewissen Stärke künftig in allen Gremien und Ausschüssen vertreten ist. Denn davon hängt zum Beispiel die Möglichkeit des Rechtes ab, Anfragen und Anträge an die kommunale Verwaltung zu stellen. Und danach richtet sich nicht zuletzt auch die Höhe der Zuwendungen der Gemeinde für die kommunalpolitische Arbeit.

Wie kam es zu der Gesetzesänderung?

Die »schwarz-grüne« NRW-Landesregierung hat es sich offensichtlich zur Aufgabe gemacht, kleinere Parteien und Wählergruppen in ihren Rechten noch schnellstmöglich vor der kommenden Kommunalwahl am 14. September in diesem Jahr zu benachteiligen und ihre eigenen Pfründe zu sichern. Dies ist ein tiefer Eingriff in die Rechte der Demokratie und Teilhabe, aber auch ein Angriff auf den Wählerwillen, der künftig missachtet worden wäre. Das war ein sehr wichtiges Urteil im Sinne kommunaler Demokratie.

Wer hat das gekippte Gesetz befürwortet?

Der Gesetzentwurf stammt von CDU, Bündnis 90/Die Grünen, wurde aber auch durch die Sozialdemokraten gestützt. Es zeigt, mit welcher Arroganz und völligen Fehleinschätzung man die Verfassungslage in Nordrhein-Westfalen bewertet hat.

Welche politischen Interessen vermuten Sie dahinter?

Obwohl wir als Linke nach den derzeitigen Umfragewerten vermutlich nicht sonderlich beschädigt worden wären, war es für uns wichtig, am Ball zu bleiben und weiter juristisch dagegen vorzugehen. Das politische Interesse dahinter ist aus meiner Sicht, dass mit dem veränderten Kommunalwahlgesetz die Opposition in den Städten, Gemeinden und Kreistagen möglichst zurückgedrängt werden sollte. Es ging vor allem darum, die »Kleinen« noch kleiner zu halten.

Diese nehmen oftmals eine substantielle und oppositionelle Rolle wahr, können durch ihre Arbeit unbequem oder oftmals auch das Zünglein an der Waage bei politischen Entscheidungen sein. Die Mär von angeblich nicht mehr handlungsfähigen Kommunalgremien durch eine angebliche Zersplitterung kann jedenfalls nicht aufrechterhalten werden. Dabei handelte es sich um ein Scheinargument, um das neue Gesetz öffentlich zu rechtfertigen.

Sascha H. Wagner ist Landessprecher der Partei Die Linke NRW und Bundestagsabgeordneter

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