Dein Foto vor Auschwitz
Von Matthias Reichelt
In keinem Geschäft für koschere Lebensmittel fehlen Brezeln. Leicht könnte der Eindruck entstehen, die Backware sei tief in der jüdischen Kulturgeschichte verankert. Doch sie stammt ursprünglich aus Österreich, Baden-Württemberg, Bayern oder dem Elsass (darüber wird bis heute gestritten) und hat ihren Weg mit deutschen Juden sowohl nach Israel wie in alle Winkel der Diaspora gefunden. Im Kunstraum Meinblau in Berlin hat der Leiter und Kurator Bernhard Draz die zweiteilige Ausstellung »Aliens anywhere« mit sechs internationalen jüdischen Künstlerinnen und Künstlern konzipiert, die sich darin teils ironisch und humorvoll, teils ernst bis sarkastisch mit den Themen »Erinnerungskultur, Migration und Identität« vor dem Hintergrund deutscher und jüdischer Geschichte auseinandersetzen.
Erez Israeli, 1974 in Beer Sheva (Israel) geboren, hat die christliche Ikonografie mit der Brezelform überschrieben. In seiner »Pretzelman« betitelten mehrteiligen Arbeit setzte er den Jesuskindern mehrerer auf Ebay oder Flohmärkten erworbenen Marienfiguren Brezelformen auf die oberen Gesichtspartien, so dass die zwei Löcher die Augenpartien umranden. Derart hat er eine ganze Wand des kapellenartigen Raums im Meinblau zu einer altarähnlichen Installation umgestaltet. In einem weiteren Werk setzt sich Erez Israeli mit dem vom Sportschriftsteller Hans Surén (1885–1972) bereits vor den Nazis propagierten »arischen« Kult um den männlichen Körper auseinander und stellt die einschlägigen, vom FKK-Sonnenanbeter Surén nackt eingenommenen Posen mit seinem »jüdischen« Körper nach. Auf diese Weise konterkariert er den rassistischen Wahn und führt ihn ad absurdum.
Der 1962 in Paris geborene und in Berlin lebende Künstler Joachim Seinfeld verwendet vor allem Fotografien, ist aber in der Ausstellung auch mit einer installativen und gleichwohl partizipativen Arbeit vertreten. Besucher können sich vor einer wandfüllenden Fotografie des Eingangstores zum Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz mit der zynischen Parole »Arbeit macht frei« von einer installierten Polaroidkamera aufnehmen lassen. Polaroids aus früheren Präsentationen zur großen Ausstellung des Fritz-Bauer-Instituts 2004 im Berliner Gropius-Bau über den Frankfurter Auschwitz-Prozess finden sich gerahmt an einer Wand. Die Teilnehmer sind aufgefordert, ihre Porträts mit einem Kommentar zu versehen und in eine Box zu werfen, um von Seinfeld verwendet werden zu können. Die Arbeit verweist darauf, dass sich viele Touristen, die das Lager besuchen, gegenseitig vor oder unter dem Eingangstor fotografieren lassen – wie zum Beweis, sich dieser schwierigen Konfrontation ausgesetzt zu haben. Eine höchst ambivalente Geste, die diverse Interpretationen zulässt und zugleich ein Lackmustest auf die Bereitschaft, Scham- und Tabugrenzen der Erinnerungspolitik zu überschreiten. In seiner bereits legendären Serie »Wenn Deutsche lustig sind – Dokufiktion« demonstriert Seinfeld seit vielen Jahren die Manipulierbarkeit des Mediums Fotografie. Er kopiert sein Bild mehrfach in historische Fotos aus dem letzten Jahrhundert und inszeniert sich gleichzeitig sowohl als Opfer wie als Täter.
Mit einer großen Projektion seines Films »Kali« mit der palästinensischen Schauspielerin Hiam Abbass ist der 1968 geborene und in Berlin lebende US-amerikanische Maler und Filmemacher David Krippendorff vertreten. Kali ist die hinduistische Göttin des Todes, der Zerstörung und der Erneuerung, ihre Wut richtet sich gegen Dämonen und Ungerechtigkeit. Hiam Abbass, als Putzfrau gekleidet, hält einen Monolog, basierend auf dem Text der Seeräuber-Jenny aus der »Dreigroschenoper« von Bertolt Brecht und Kurt Weill in der Interpretation von Nina Simone. Während ihrer Suada wird sie von einer Überwachungskamera gefilmt, die Aufnahme ist auf einem kleinen Monitor unterhalb der Projektion zu sehen. Eine vielschichtige Arbeit, in der Abbass eindrucksvoll die Wut und den Hass Ausgebeuteter und Entrechteter auf Unterdrücker und Ausbeuter spielt – stellvertretend für viele Konflikte. Dass die Repressionsorgane bestens informiert sind, ist eine zusätzliche realistische wie ernüchternde Note. Aufgrund von Hiam Abbass’ Herkunft liegt es nahe, die Arbeit vor der Folie der gegenwärtig genozidalen Politik Israels gegenüber den Palästinensern zu sehen. So verabscheuungswürdig das Massaker der Hamas und anderer palästinensischer Militanter vom 7. Oktober 2023 auch ist – eine ethnische Säuberungspolitik, die auf ein jüdisches Großisrael zielt und die Ermordung Zehntausender Menschen sowie geplantes Aushungern und Vertreibung Hunderttausender einpreist, lässt sich damit nicht rechtfertigen.
Die Ausstellung, in deren zweitem Teil Arbeiten von Sharon Paz, Hadas Tapouchi und Simon Wachsmuth zu sehen sein werden, will gerade die Schwierigkeiten von Gedenken und Erinnerung im Spannungsverhältnis aktueller Ereignisse problematisieren.
»Aliens Anywhere«, Meinblau, Christinenstraße 18–19, Pfefferberg-Haus 5, 10119 Berlin, Teil eins bis 8. Juni, Teil zwei 20. Juni–13. Juli 2025, Do.–So., 14–19 Uhr https://meinblau.de
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