Nordsee
Von Jürgen Roth
Ein VW-Transporter mit der in gebieterischen Versalien gesetzten Aufschrift »INSEKTENBURGER« kesselte vorbei. Das ist die Welt des objektiven Gagageistes.
Mit einem Plakat im Schaukasten auf der anderen Straßenseite trommelte die SPD für die achttausendsten »Internationalen Wochen gegen Rassismus«, da den Pfeifen zu Politik und Gesellschaft nichts anderes mehr einfällt. Warum aber nicht wenigstens sprachlich einen Deut »kreativer«? »Internationale Wochen gegen Eskimoverachtung« oder »Internationale Wochen gegen internationale Diskriminierung von allem und jedem«? Nicht? Gut. So weitermachen.
Am folgenden Tag keifte mich indes ein neuer Aushang der Genossen an: »Sommer – Sonne – Solidarität«. Ich verachtete mein Gehirn dafür, dass es dergleichen ständig zur Kenntnis nimmt, und überlegte, ob ich den Anwälten der internationalen Klasse der Rüstungsproduzenten nicht einen Brief senden und sie darüber aufklären sollte, dass der Deutschnationale Richard Wagner den Stabreim noch inniger liebte als seine Schwiegertochter Winifred den Adi.
Gott sei Dank kam der Große Malaka des Weges, unterbrach, mit der Zigarette im Mundwinkel undeutlich eine Grußformel sprechend, meine Grübelei und schwallte sofort auf mich ein: »Du guter Mann! Ich geben dir Bier – mit Krone! Du kommen mit!« – »Malaka«, sagte ich, »Bier gibt’s doch hier! Warum soll ich wohin mitkommen?«
»Du kommen mit! Ich dir schenken!« Ich kann dem siebenundsiebzigjährigen kleinen Mann mit schütterem schlohweißen Haupthaar nichts abschlagen, ich mag ihn einfach. Also latschte ich mit ihm um die Ecke, wo sein spektakulär verbeulter Kleinwagen stand. Er öffnete den Kofferraum und entnahm einem Karton zwei Trinkgefäße.
Nun thronen auf meinem Schreibtisch die zwei hässlichsten Steingutbierkrüge mit Zinndeckeln, die eine bayerische Manufaktur jemals gefertigt hat. Den weißen krönt eine Art Pickelhaube, der braune mit einer Wirtshausszene und opaken Ornamenten fasst eine Maß. Zusammen sind sie laut Preisetiketten 19,60 Euro wert.
Ich habe nach dieser brillanten Schilderung eine halbe Stunde lang meine Notizen übers Rumgammeln in der Provinz durchforstet und beäugt, denn es braucht verfickt noch mal eine angemessen umfängliche neue Kolumne (die ist bis hierher kurz), weil der Skribentenschinder Merg, der Peitschenschwinger unter den Feuilletonredakteuren, andauernd Nachschub erheischt.
Die Aufzeichnungen geben allerdings nicht allzuviel her. Ich gehe rüber ins Büro und setze mich an den Computer mit Netzanschluss. Im Postfach ist eine Mail meines Bruders Thomas, und die schließt folgendermaßen:
»Heute u. a. Kiebitze, Lerchen, Brachvögel, Zwergseeschwalben im Kamikazemodus, nur nicht lebensmüde, redegewandte Rohrsänger und weitläufig herumsegelnde Wiesen-, nicht Laubenpieper. Abends Kino, im ›Windlicht‹, ein Saal neben einer Kneipe im Achtziger-Jahre-Stil (rustikal, aber ’n büschen Fenster in die Wände), vor der Leinwand mannshohe Stapel von Sitzkissen, die man sich nehmen und unterschieben kann, wenn der Holzstuhl bei hundertdreißig Minuten Hollywood zu hart wird oder man die Leinwand sehen will. An den Wänden Filmspulen wie Wagenräder, ein Chaplin-Pappaufsteller, die Halbe wird einem an den Platz gebracht, wenn die Wirtin ihre Tagesabrechnung (zwanzigmal Scholle Finkenwerder Art, zweiunddreißig Ostfriesentee, fünfzehn Milchreis mit Schwarzbrot) unterbrechen kann. Nach dem Abspann noch Leuchten im Himmel, wie Nordlicht, nur ohne die vielen Farben. Die Dünen liegen wie vom Tagwerk erschöpfte Herdentiere in der Dämmerung herum.
Grüße also von der Nordsee«.
Da ich ohne Smartphone die Drecksbahn kaum mehr benutzen kann und die schöne Frau in Frankfurt das Auto braucht, komme ich in absehbarer Zeit nicht an die Nordsee. Doch weshalb sollte ich hinfahren wollen? Wenn mir solch anmutige Zeilen geschickt werden, in denen die ganze Nordsee drin ist?
Und ohnehin verharre ich vorerst eisern solidarisch: hier. Basta.
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