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Wölfe, Partisanen, Prostituierte

Von Helmut Höge
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Einmal habe ich einige meiner Texte über Wölfe, Partisanen und Prostituierte in einem Buch (»WPP«) zusammengefasst. Die drei haben vieles gemeinsam: Sie »arbeiten« vorwiegend nachts, und sie lösten einander quasi ab. So wurden z. B. die einstigen Wolfspfade in den Wäldern Osteuropas erst von Partisanen (die gegen die Deutschen kämpften) und zuletzt von Schlepperbanden benutzt, die junge Frauen über die Grenzen schmuggelten, die hernach im Westen als Prostituierte tätig wurden. In vielen Ländern Afrikas waren die Bordelle oft Rebellenhauptstützpunkte.

Im Abschnitt »P« wie »Partisanen« habe ich von den Arbeiten der am 25. Januar 2024 verstorbenen Schriftstellerin Ingrid Strobl viel gelernt. Als Faustregel für die Partisanenliteratur gilt: Je professioneller, desto leidenschaftsloser. Oft ist auch die Wahrheitsfindung in solchen Werken allzu seicht oder ideologisch borniert. Ingrid Strobl war eine feministische Partisanin aus der Arbeiterklasse, die einst für die Antiautoritären der »Bewegung 2. Juni – Rote Zora« einen Wecker kaufte für ein Bombenattentat und dafür fünf Jahre ins Gefängnis kam.

Im Gegensatz zur RAF, die in jedem Gefängniswärter einen Handlanger der Faschisten sah, pflegte Ingrid Strobl zu den Schließerinnen im Knast ein entspanntes Verhältnis. Sie sah in den Justizvollzugsbeamtinnen eher Frauen und Arbeiter. In ihrem »Rechenschaftsbericht« »Vermessene Zeit. Der Wecker, der Knast und ich« (2020) erzählt die einstige Emma-Redakteurin, wie sie in ihrer Zelle das Buch »Sag nie, du gehst den letzten Weg. Frauen im bewaffneten Widerstand gegen Faschismus und deutsche Besatzung« schrieb. »Das hat mir erspart, bis heute Anwalts- und Prozesskosten abzuzahlen. Es war die erste Monografie zum Thema«, erklärte Ingrid Strobl in einem Interview 2020. Da war sie beim WDR quasi »für die schweren Fälle zuständig: Heroinabhängige, Prostituierte, Arme«.

Außerdem übersetzte sie die Erinnerungen der polnischen Ghettokämpferin Chaika Groisman. Besonders ergiebig war für sie die Quellenlage im einstigen partisanischen Bermudadreieck zwischen Litauen/Weißrußland und Polen/Galizien: »Nirgendwo sonst haben so viele beteiligte Frauen während oder kurz nach dem Krieg schriftliche Zeugnisse über den jüdischen Widerstand hinterlassen«, meinte sie, die darüber hinaus viele der Überlebenden befragte. Kommt noch hinzu, dass es z. B. etliche Bücher gibt über die Wilnaer Stadtguerillagruppe, insbesondere die späteren »Rächer« um Abba Kovner, Ruzka Korczak und Vitka Kempner (alle drei gelangten später nach Palästina, wo sie sich einem Kibbuz anschlossen). Von Ingrid Strobl kam dazu 1998 eine vergleichende Studie: »Die Angst kam erst danach«. Es ist hochinteressant, auf diese Weise nach und nach die ganze Partisanengruppe kennenzulernen.

»Die Scheidelinie zwischen Geschichte und Fiktion ist das erste Hindernis auf dem Weg zu einer gerechten Erinnerung«, meinte Paul Ricœur. Der weißrussische Kriegsveteran und Schriftsteller Wassil Bykau, der sich ähnlich wie sein Landsmann Ales Adamowitsch mit nichts anderem als mit dem Partisanenkampf gegen die Deutschen beschäftigte, gab, als er wegen Auseinandersetzungen mit der Regierung in Minsk im Exil in Köpenick lebte, der Zeitung Russkij Berlin ein Interview. Darin meinte er: »Bis vor kurzem durfte man die ganze Wahrheit über den Krieg nicht sagen. Das lag nicht an der Zensur oder am dogmatischen sozialistischen Realismus, die natürlich auch die Literatur unterdrückten, sondern an dem besonderen Charakter des gesellschaftlichen Bewusstseins in der Sowjetunion, das nach dem Krieg eine fast süchtige Beziehung – nicht zur Wahrheit des Krieges, sondern zu den Mythen des Krieges hatte: Das betraf die Helden, die Flieger, die Partisanen usw. Diese schönen Mythen waren auch für die Veteranen annehmbar, obwohl sie ihren eigenen Erfahrungen widersprachen. Die Wahrheit über den Krieg war nutzlos und sogar ­amoralisch.«

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in karin b. aus Walter Noobsch, Göttingen (12. Februar 2024 um 20:10 Uhr)
    »Ingrid Strobl war eine feministische Partisanin aus der Arbeiterklasse, die einst für die Antiautoritären der ›Bewegung 2. Juni – Rote Zora‹ einen Wecker kaufte, für ein Bombenattentat, und dafür fünf Jahre ins Gefängnis kam.« – Das ist nicht korrekt. Die »Bewegung 2. Juni« hat sich bereits 1980 in die Rote Armee Fraktion (RAF) aufgelöst; der fragliche Wecker diente erst 1986 als Teil eines Zeitzünders; der dazugehörige Sprengsatz explodierte bei der Lufthansa in Köln im Rahmen einer Anti-Sextourismus-Kampagne der Roten Zora, die die Frauenorganisation der Revolutionären Zellen (RZ) war; Ingrid Strobl wurde zwar für fünf Jahre verknackt, war aber nur von 1987 bis 1990 im Knast. Man darf da ruhig mal genau und korrekt sein; es gab nur drei Stadtguerillaprojekte in der Geschichte der alten BRD. Anderswo war und ist das z. T. viel komplizierter!

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