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Aus: Ausgabe vom 13.02.2024, Seite 11 / Feuilleton
Film

Im Kino der Affekte

Queerer Horror: Die neunte Ausgabe des Berliner Filmfestivals »Final Girls« schockiert durch tierische Transformationen
Von Barbara Eder
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Nach dem Verlust der besten Freundin: Filmszene aus »Booger«

In den ausgehenden 70er Jahren entstand ein Filmgenre, das mit den Grenzen zwischen den Gattungen auch jene zwischen den Geschlechtern verwischte. Der Slasherfilm etablierte sich als Subgenre des Horrorfilms und konfrontierte sein Publikum mit realen Ängsten und noch realeren Folgen. Meir Zarchis Rape-Revenge-Shocker »I Spit on your ­Grave« von 1978 machte die Zuschauer zu Zeugen einer Vergewaltigung – an einem Ort fernab der Zivilisation, wo niemand die Schreie des Opfers noch hören kann. Während eines Urlaubs in den Wäldern Louisianas wird Jennifer (Camille Keaton) von vier Männern vergewaltigt. Anschließend verübt sie Selbstjustiz und »wiederholt« das an ihr begangene Verbrechen an den Körpern der Täter. Sie erhängt, erschlägt und kastriert ihre Vergewaltiger, einmal mit Hilfe einer Schiffsschraube. Camille Keatons kameravermittelter Blick kennt berechtigterweise keine Gnade, sie wird zum ersten »Final Girl« der Filmgeschichte.

Im Horrorfilm überlebt das »Final Girl« nicht nur die an ihr verübte Gewalt, es schlägt am Ende auch zurück: Aug um Aug, Zahn um Zahn. Am Ort des blanken Entsetzens beginnt eine andere Geschichte – von Frauen, die Rache nehmen und ihren Peinigern mitunter das Leben. Die genretypische Erzählfigur hat sich stark verändert, der filmische Topos wurde zunehmend queer: »Final Girls« können behindert sein und aus einer Welt fernab der normierten Körper kommen. Nicht selten zieren dunkle Augenringe oder Oberlippenbärtchen ihre Gesichter. Ein Close-up auf die jüngsten Entwicklungen des Genres bestätigt: Die Überlebenden der Gegenwart sind selten weiß und ohne Blessuren. Sie stammen nicht nur aus US-amerikanischen Durchschnittsfamilien, sondern mitunter auch von Geistern und Dämonen ab. Neuerdings gelingt auch die Transformation zum Tier – als letztmögliche Rettung in altbewährter Manier: »Full Moon, Hungry Hearts« – im Queerhorror der Gegenwart ist das Werwolfwerden kein Männerprivileg mehr.

Angeblich soll Odysseus die Höhle des Zyklopen unter dem Bauch eines Tiers verlassen haben, im Mythos übernahm es stets dann die Regie, wenn an andere Auswege nicht mehr zu denken war. Vielen Besucherinnen und Besuchern des Filmfestivals »Final Girls« mag es an diesem Sonntag abend ähnlich ergangen sein. Sie verließen den Saal des City Kino Wedding mit den Nachbildern von Tiertransformationen, die es mit jenen zwischen den Geschlechtern durchaus aufnehmen können. Neun Featurefilme, drei Vorträge, einige Workshops und zwölf von den Veranstalterinnen Eli Lewy und Sara Neidorf kuratierte Kurzfilmreihen gaben Einblicke in die sich wandelnde Welt des Independent Horrors von Frauen und nichtbinären Filmemacherinnen.

Am Mittwoch abend begann die Schau mit zeitgemäßen Bildern einer großen Liebe. Mary Dautermans »Booger« handelt vom Verlust der besten Freundin – und einer nur schwer zu sublimierenden Melancholie. Mit Videoschnipseln auf Smartphones und Tablets klinkt sich Annas vormalige Mitbewohnerin Izzy immer wieder in die Gegenwart ein: Eben noch lagen die Freundinnen im selben Bett, veranstalteten Kissenschlachten und tranken an amerikanischen Traumstränden Pina Coladas. Was sie über den Tod hinweg miteinander verbindet, ist eine entlaufene Katze namens Booger. Sie wird Anna zuerst kratzen, dann beißen. Anna überwindet ihre Trauer in Tiergestalt, sie selbst wird zum Objekt des Verlusts – aus ihrer Wunde wächst zuerst nur ein schwarzes Haar, später schon ein dichtes Fell. Ein Blick auf die Mise-en-Scene gibt dem Film am Ende nochmals eine andere Wendung: Anna, Izzy und Booger finden sich hinter der Kamera wieder, das Unglücksvehikel der Freundin wird zum Punkmonument im öffentlichen Raum: ein besprühtes Fahrrad am Straßenrand, so weiß wie Schnee von gestern.

Auch der kanadische Spielfilm »My Animal« geizt nicht mit tierischen Metamorphosen. Eine Eishalle, in der Euphoria anfangs nur Pommes verkaufen und ihre Brüder beim Eishockeytraining beobachten darf, wird zum Ort der filmischen Urszene. Als die Paarläuferin Jonny die spiegelglatte Fläche betritt, beginnt eine Liebesgeschichte auf dünnem Eis. Euphoria, die nun die Tore der Bubenmannschaft verteidigt, setzt für Jonny alles aufs Spiel – und wird im Zweikampf gegen ihren heteronormativen Freund zum Wolf. Im Moment des Geschlagenwerdens wird aus ihrem Röcheln ein Knurren und der Mond am Camphimmel färbt sich rot. »My Animal« verzichtet auf das direkte Zeigen von Blut und Wunden, die Kastration beginnt schließlich anderswo: »You cannot make her come«, heißt es in der finalen Konfrontation von Euphoria mit ihrem Peiniger, über den sie in Tiergestalt triumphiert.

Clowns zählen auch zu den ersten komischen Figuren des frühen Kinos. Die in Kooperation mit dem Pornofilmfestival Berlin präsentierte Kurzfilmreihe »Le petit mort« gab die Leinwand am Freitag abend für ihre ­queere Renaissance frei. In Oran Julius Zehnminüter »Chrysalis« schweben Luftballons aus Kondomen über dem Hochbett, die Schminke von kopulierwütigen Horrorclowns sorgt für den nötigen V-Effekt. Die Protagonisten des Kurzclips entfremden gemeinsam Sexutensilien und verändern sie im unmittelbaren Gebrauch. Karnevalesk ist auch der Umgang mit sexualisierten Körpern in Samantha O’Rourkes »The Girl with the Haunted Vagina« – vor jedem Höhepunkt sucht ein Geist in Gestalt eines Methodistenpriesters ihren Unterleib heim. Mit Yichien Lee’s Kurzfilm »Tail« gelingt der Genremix aus Horror und Porno erneut mit einen Exkurs ins Groteske: Ein dreißig Fuß langer Phallus behindert die Protagonistin zunehmend in ihrem Alltagsleben; indem sie das schleimige Stück Plastik schlechterdings abhackt, gelingt ihr auch die Flucht aus den falschen Verhältnissen – Hura verlässt ihren besten Freund. Queer-Body-Horror wird damit einmal mehr zur Komödie. Was vom diesjährigen »Final Girls«-Filmfestival bleibt, ist eine Träne im Augenwinkel – vom zwerchfellerschütternden Lachen inmitten einer Welt des ausufernden Realhorrors.

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