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Aus: China, Beilage der jW vom 01.10.2025
Volksrepublik China

Langer Marsch an die Spitze

Langfristige Planung und gesellschaftliche Verantwortung statt Marktdynamik und ineffektive Fragmentierung: Das chinesische Wissenschaftssystem ist weltweit einzigartig
Von Hannes A. Fellner
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Chinesische Studentinnen und Studenten feiern ihren Abschluss (Wuhan, 20.6.2024)

Chinas Universitäten waren nie neutrale Institutionen. Seit der Gründung der Volksrepublik im Jahr 1949 waren sie immer für mehr als bloß für die Weitergabe von Wissen zuständig. Sie tragen die Verantwortung, die Zukunft des Landes mitzugestalten, Bildung an die Bedürfnisse der Gesellschaft anzupassen und wissenschaftliche Arbeit auf Werte auszurichten, die dem Gemeinwohl dienen. Diese Verbindung von Forschung, praktischen Aufgaben und ideologischer Orientierung hat dem chinesischen Hochschulsystem seinen besonderen Charakter verliehen: Es folgt weder der aufmerksamkeitsökonomischen Marktorientierung noch der Fragmentierung abgehobener Forschungseinrichtungen wie im Westen. Die akademischen Institutionen in China sind ein koordiniertes System, in dem politische Planung und gesellschaftliche Umsetzung von Wissen als wesentliche Voraussetzungen von Entwicklung und Zukunftsfähigkeit gelten.

In den frühen Jahren der Volksrepublik wurden Universitäten aus den Ruinen des Krieges wiederaufgebaut. Nach sowjetischem Vorbild entstanden Fakultäten, die Fach- und Verwaltungskräfte für den nationalen Aufbau ausbildeten. Die Turbulenzen der Kulturrevolution unterbrachen diesen Prozess nur partiell, machten jedoch auch deutlich, wie eng Bildung und Politik verbunden sind. Mit den Reformen nach 1978 öffneten sich die Universitäten erneut, Forschung wurde wieder auf ein breiteres Fundament gestellt und Studierende ins Ausland entsandt. Doch auch im Zuge der Öffnungspolitik und der Marktreformen blieb ein Grundsatz bestehen: Höhere Bildung muss mit dem Weg der Modernisierung des Landes verbunden bleiben.

Unaufhaltsamer Aufstieg

Heute sind die Ergebnisse dieses langen Marsches unübersehbar. In den globalen Rankings spielen chinesische Universitäten keine Nebenrolle mehr, sondern gehören zur Spitzengruppe. In den »Times Higher Education Asia Rankings« 2025 belegen die Tsinghua und die Peking-Universität die Plätze eins und zwei, weitere chinesische Universitäten rangieren unter den ersten zehn. Das aktuelle »Shanghai Ranking« markierte einen Wendepunkt: China verfügt inzwischen über mehr Universitäten in den globalen Top 500 als die Vereinigten Staaten. Dies ist nicht nur symbolisch, sondern Ausdruck einer Verlagerung des globalen wissenschaftlichen Schwerpunkts.

Dieser Aufstieg ist kein Zufall, sondern das Ergebnis gezielter Strategien. Programme wie »Projekt 985« (seit 1998 gezielte Förderung ausgewählter Universitäten zur Weltspitze), »Projekt 211« (seit 1995 Ausbau von rund 100 Hochschulen mit nationaler Bedeutung) oder die »Double First-Class«-Initiative (seit 2017 strategische Entwicklung ausgewählter Universitäten und Fachbereiche auf Weltklasseniveau) bündelten Ressourcen, um international konkurrenzfähige Forschungsinstitutionen aufzubauen. Hinzu kommt eine insgesamt enorme Förderung der Wissenschaft: China investiert in einem Maß in Forschung und Entwicklung, das die Ausgaben der Vereinigten Staaten mittlerweile weit übertrifft. In entscheidenden Zukunftsfeldern – von künstlicher Intelligenz über erneuerbare Energien bis zur Biotechnologie – hat China nicht nur aufgeschlossen, sondern ist oft bereits führend. Entscheidend ist dabei, dass dieser Aufschwung nicht der »unsichtbaren Hand« des Marktes überlassen wird. Er ist geplant und gesteuert.

Ein besonderes Merkmal chinesischer Hochschulen ist die verstärkte institutionelle Präsenz von Parteisekretariaten und -komitees. Sie fungieren als Kompass für die Ausrichtung an der Modernisierung des Landes. In allen großen Universitäten leiten sie die strategische Entwicklung an, bewerten Studienprogramme und sorgen dafür, dass Bildung nicht in bloß utilitaristische Bahnen oder in Abhängigkeit von privaten Interessen gerät. Was im Westen oft als Einmischung wahrgenommen wird, gilt in China als notwendige Absicherung: Universitäten sind keine isolierten Elfenbeintürme mit brillanten Einzelgängern, sondern kollektive Organe mit umfassender gesellschaftlicher Verantwortung.

Diese ideologische Orientierung schmälert nicht die wissenschaftliche Qualität – im Gegenteil, sie schafft Klarheit im Auftrag. Während westliche Hochschulen sich in Rankings, kurzfristigen Drittmittelprojekten oder ineffektiven Förderlogiken verlieren, garantiert die umsichtige Planung von »Top-down«- und »Bottom-up«-Ansätzen in China Kontinuität. Forschende können langfristige Projekte verfolgen, im Wissen, dass staatliche wie privatunternehmerische Unterstützung nicht nach dem nächsten Budgetzyklus oder Regierungswechsel endet. Gleichzeitig schützt die politische Aufsicht vor einer übermäßigen Kommerzialisierung und hält den Zweck von Wissenschaft präsent: der Gesellschaft zu dienen, nicht privaten Renditen.

Zerfall der Wissensordnung

Während China seine Hochschulen in den Dienst einer langfristigen gesellschaftlichen Strategie stellt, zeigt sich im Westen ein Bild des Zerfalls. Besonders deutlich wird dies in den Vereinigten Staaten, wo sogenannte Eliteuniversitäten wie Harvard seit Jahrhunderten integraler Bestandteil imperialer Macht waren. Harvard war nie eine fortschrittliche Institution, sondern eng verflochten mit kolonialen Interessen, Rassismus und der US-Außenpolitik. Im Kalten Krieg fungierte sie als intellektuelles Zentrum der Destabilisierung der Sowjetunion; in den 1990er-Jahren spielte sie durch Figuren wie ihrem späteren Präsidenten Larry Summers eine Schlüsselrolle bei der neoliberalen Schocktherapie in Osteuropa – mit verheerenden sozialen Folgen.

Harvard profitierte lange vom »Brain-Drain« des globalen Südens, indem es Forschende aus dem Ausland anzog, während deren Herkunftsländer ihre intellektuellen Ressourcen verloren. Heute wiederum wird die Institution von innen wie außen unter Druck gesetzt: Angriffe der Trump-Administration – Einreiseverbote für internationale, insbesondere chinesische Studierende, Kürzungen von Forschungsgeldern, Aberkennung steuerlicher Privilegien – sind nicht nur darauf ausgerichtet Harvard zu schwächen, sondern die gesamte US-amerikanische Hochschullandschaft.

Die aktuellen Maßnahmen der Trump-Administration gegen das US-Hochschulwesen sind Ausdruck eines sich als Rebellion gegen Eliten gerierenden Angriffs auf missliebige Teile des akademischen Establishments, das im Ringen der Kapitalfraktionen auf der falschen Seite steht. Unter dem Vorwand der nationalen Sicherheit und des Kampfes gegen Antisemitismus wird aber generell versucht, fortschrittliche, kritische oder einfach rationale Stimmen zu unterdrücken und die Universitäten ideologisch zu säubern – denn insbesondere der studentische Widerstand gegen den Genozid der israelischen Regierung in Gaza wurde in den vergangenen Jahren zu einer für US-Verhältnisse relativ großen sozialen Bewegung an den Universitäten, die über diese hinaus Wirkung zu entfalten begann.

Unter dem Vorwand nationaler Sicherheit werden insbesondere chinesische Studierende und Forschende zu »Sicherheitsrisiken« erklärt. Die Folge: ein drastischer Rückgang des Austausches, der die wissenschaftliche Zusammenarbeit zwischen den beiden größten Volkswirtschaften der Welt enorm schwächt. Während sich also die USA selbst von Kooperationen abschneiden, beschleunigt China seine Emanzipation vom US-Modell und kann seine eigenen Forschungskapazitäten stark ausbauen.

Umfassender Bildungsanspruch

Die technischen Erfolge Chinas sind weithin sichtbar: Stromerzeugung aus erneuerbaren Energieträgern, Robotik, intelligente Infrastruktur und moderne Produktion entstehen aus enger Zusammenarbeit von Universitäten, staatlichen Forschungszentren und Unternehmen. Aber auch die Geistes- und Sozialwissenschaften sind im Wandel. Institute für Philosophie, Geschichte, Literatur und Recht sind integraler Bestandteil der nationalen Entwicklung. Immer wieder betont die Partei, dass Bildung nicht nur Fachkräfte hervorbringen, sondern auch kulturelles Selbstbewusstsein und intellektuelle Weltoffenheit stärken soll. Programme zur klassischen chinesischen Bildung, zur Marxismusforschung und zu Global Studies werden gefördert, Debatten über Zivilisation, Moderne und Governance verbinden chinesische Traditionen mit internationaler Wissenschaft. Hier zeigt sich erneut die Bedeutung ideologischer Begleitung: Indem marxistische Theorie und politische Bildung in allen Disziplinen stärker verankert werden, soll humanistisches Wissen relevant und gesellschaftlich wirksam bleiben.

Ein weiteres Kennzeichen des Systems ist die Fähigkeit, Wettbewerb und Kooperation miteinander zu verbinden. Universitäten konkurrieren um wissenschaftliche Spitzenleistungen, zugleich teilen sie jedoch Ressourcen in nationalen Forschungszentren oder regionalen Clustern. Der Staat sorgt dafür, dass Mehrgleisigkeit nicht in Verschwendung ausartet und neue Erkenntnisse schnell in die Breite ökonomischer und gesellschaftlicher Projekte getragen werden.

Auch ausländische Unternehmen erkennen diesen Vorteil. So haben beispielsweise einige westliche Konzerne ihre Forschungszentren in Shanghai zu globalen Hubs ausgebaut – im Vertrauen auf die Stärke des umliegenden Ökosystems aus Universitäten, Laboren, Fachkräften und innovativen Unternehmen. Zugleich öffnen sich chinesische Hochschulen immer mehr für internationale Studierende, vor allem aus Afrika und Asien. Anstatt Intellektuelle dauerhaft aus diesen Regionen abzuziehen, fördert China dabei einen Austausch, der gegenseitigen Nutzen stiftet.

Wissenschaft statt Militarismus

Am deutlichsten tritt der Unterschied zwischen China und dem Westen in der Prioritätensetzung zutage. Während in Europa und den USA immer größere Haushaltsmittel in Aufrüstung und die Sicherung der militärisch-technologischen Vormacht fließen, setzt China seine Ressourcen gezielt für die Förderung von Wissenschaft, Bildung und Innovation ein. Forschung in Schlüsseltechnologien wird dort nicht als Nebenschauplatz behandelt, sondern als Kern einer langfristigen Entwicklungsstrategie verstanden, die Bildung, Infrastruktur und Industriepolitik miteinander verzahnt.

Die Ergebnisse dieser unterschiedlichen Schwerpunkte lassen sich klar ablesen. Chinesische Universitäten und Forschungszentren erzielen nicht nur Rekordergebnisse in den internationalen Rankings, sondern veröffentlichen auch immer mehr hochzitierte Publikationen, sind führend bei Patentanmeldungen und stehen bei zahlreichen Zukunftsfeldern an der Spitze der weltweiten Entwicklung. Der Westen dagegen schwächt mit seiner kurzsichtigen wie gefährlichen Militarisierung die eigenen Grundlagen: Unterfinanzierte öffentliche Hochschulen, wegbrechende Forschungsförderung und eine »Sicherheitslogik«, die gesellschaftliche Institutionen umgestaltet, sorgen für eine immer geringere Innovationsfähigkeit und destabilisieren den sozialen Zusammenhang.

Während China Wissen aufbaut und mit Partnern im globalen Süden teilt – sei es durch Stipendienprogramme, gemeinsame Forschungszentren oder Technologietransfer –, bindet der Westen seine Ressourcen in ein geopolitisches Rückzugsgefecht. Anstatt Lösungen für Klimawandel, Digitalisierung und soziale Transformation zu erarbeiten, vergeudet man Zukunftspotenzial im Wettrüsten. China demonstriert, dass eine konsequente Förderung von Wissenschaft nicht nur den eigenen Entwicklungsweg sichert, sondern auch internationale Kooperation ermöglicht. Der Westen dagegen offenbart mit seinen Priorisierungen die Unfähigkeit, einen zukunftsfähigen Gesellschaftsentwurf aufrechtzuerhalten.

In den vergangenen Jahrzehnten hat China sich aus der Abhängigkeit vom US-amerikanischen Universitätssystem gelöst und investiert stark in den Aufbau eigener wissenschaftlicher Kapazitäten. Der Rückzug chinesischer Studierender aus den USA beschleunigt diesen Prozess und wird die globale wissenschaftliche Führungsrolle der USA weiter schwächen. Das ist ein Gewinn für die Welt.

Da China eine andere Politik verfolgt – getragen von langfristiger Planung, gesellschaftlicher Beteiligung und dem Primat des Gemeinwohls über den Markt –, entsteht abseits des untergehenden westlichen Hegemoniemodells ein neuer Typ wissenschaftlicher Entwicklung: einer, der nicht der Verwertung und Unterdrückung dient, sondern sich dem Aufbau einer sozial und ökologisch zukunftsfähigen Zivilisation verpflichtet sieht. Dabei weiß China um die strategische Bedeutung wissenschaftlicher wie technischer Souveränität – und ist zugleich bereit, neue Erkenntnisse und Produkte solidarisch mit Entwicklungsländern zu teilen, anstatt sie wie der Westen zu monopolisieren, wie sich beispielsweise bei der Verteilung von Impfstoffen in der Coronapandemie zeigte. So wird China zum Hoffnungsträger eines multipolaren Weltsystems und zum Vorbild für echten Fortschritt, sowohl in der Meisterung der wissenschaftlich-technischen Revolution als auch im internationalen Klassenkampf.

Hannes A. Fellner ist Professor am Institut für Europäische und Vergleichende Sprach- und Literaturwissenschaft der Universität Wien und akademischer Leiter des Österreichischen Instituts für China- und Südostasienforschung.

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