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Aus: Antifaschismus, Beilage der jW vom 13.09.2025
80. Tag der Erinnerung und Mahnung

Tradition seit 1945

Antifaschisten gedenken am zweiten Sonntag im September der Opfer des Faschismus. Zur Geschichte des Tags der Erinnerung und Mahnung
Von Ulrich Schneider
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Historisches Plakat des Aufrufs zur Massengedächtnisfeier am ersten Tag der Mahnung am 9. September 1945

Es ist ein deutliches Signal für die geschichtspolitische Realität in unserem Land, dass die Erinnerung an die Opfer der Nazis in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder durch politische Debatten überlagert wurde. Dagegen galt es unmittelbar nach der Zerschlagung der Nazibarbarei als vollkommen selbstverständlich, sich aller Opfer zu erinnern. So ergriffen bereits im Sommer 1945 in Berlin ehemalige politische Häftlinge die Initiative, einen Gedenktag zu etablieren. Der Berliner »Hauptausschuss Opfer des Faschismus« wandte sich an den Oberbürgermeister und der Berliner Magistrat rief am 9. September 1945 zum ersten Mal zum »Tag der Opfer des Faschismus« auf. Die antifaschistisch-demokratischen Parteien und gesellschaftlichen Kräfte beteiligten sich an der Ehrung der »toten Helden des antifaschistischen Kampfes«. Dem Aufruf folgten 100.000 Berliner Bewohnerinnen und Bewohner, die sich im Lustgarten versammelt hatten.

Als Gedenktag wurde er würdevoll gestaltet mit klassischer Musik und Rezitation. Das Lied »Unsterbliche Opfer« und das »Moorsoldaten«-Lied wurden angestimmt. Es sprachen Maria Wiedmaier, Ravensbrück-Überlebende, Ottomar Geschke, Häftling in verschiedenen KZ, und Oberbürgermeister Arthur Werner. Sie verbanden in ihren Reden – wie es in zeitgenössischen Berichten heißt – Trauer und Gedenken mit dem Aufruf, den Nazismus mit seinen Wurzeln zu beseitigen und ein freies demokratisches Deutschland aufzubauen.

Auch in anderen Besatzungszonen wurde diese Idee aufgenommen, einen gemeinsamen Gedenktag zu gestalten. Der interzonale Gründungskongress der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) im März 1947 in Frankfurt am Main beschloss daher, den Gedenktag für die Opfer des Faschismus jährlich in ganz Deutschland am gleichen Tage zu begehen, nämlich am zweiten Sonntag im September. Im allgemeinen Sprachgebrauch hieß dieser Tag deshalb auch OdF-Tag.

Ziel war es, Gedenken und Erinnerung mit einer politischen Botschaft für heute und morgen zu verbinden. In den 1940er Jahren traten Antifaschisten, Vertreter von Landesregierungen und Stadtverwaltungen sowie Politiker aller Parteien bei diesem Gedenken gemeinsam auf. Oftmals wurden solche Feiern mit der Beisetzung sterblicher Überreste von Opfern der Nazis oder anderen Ehrungen, wie die Einweihung von öffentlichen Zeichen der Erinnerung, verbunden.

Mit dem sich verschärfenden Kalten Krieg und der Ost-West-Konfrontation geriet auch der OdF-Tag zwischen die politischen Frontlinien. In Berlin weigerte sich der Magistrat 1948 am OdF-Tag teilzunehmen. Er führte eine kleine Gedenkfeier in Plötzensee durch, wo eine CDU-Stadträtin sprach, während die VVN zu einer Großkundgebung mobilisierte. Im britischen und amerikanischen Sektor von Berlin wurden Bezirksveranstaltungen zum OdF-Tag verboten. Dennoch beteiligten sich viele zivilgesellschaftliche Gruppen an der zentralen Manifestation, wo der stellvertretende Vorsitzende der VVN, Heinz Galinski, erneut 100.000 Menschen begrüßen konnte. Bei dieser Kundgebung sprachen zum ersten Mal Repräsentanten der FIAPP, der internationalen Dachorganisation ehemaliger Verfolgter (Fédération Internationale des Anciens Prisonniers Politiques). Als die VVN im darauffolgenden Jahr gemeinsam mit der FIAPP ein Opfergedenken in Hamburg durchführen wollte, legte die britische Besatzungsmacht vielfältige Steine in den Weg: Internationalen Gästen der FIAPP wurde die Einreise in die britische Zone untersagt und der Magistrat organisierte eine separate Veranstaltung, um nicht gemeinsam mit der VVN gedenken zu müssen.

Damit führte die Ost-West-Konfrontation dazu, dass das Gedenken an die Opfer des Naziregimes überlagert wurde. Während in verschiedenen Teilen der BRD und der DDR der zweite Sonntag im September weiterhin als Gedenktag – nun in der Verantwortung der VVN – begangen wurde, wurde durch staatliche Stellen der BRD nur noch der »Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft« gedacht, und zwar am Volkstrauertag im November. Hier trafen sich Veteranen der SS-Verbände, ehemalige Wehrmachtssoldaten und die Opfer »alliierten Bombenterrors«, wie es hieß. Die von den Faschisten Ermordeten waren – zumindest in der BRD – weitestgehend verdrängt.

Nach der Auflösung der VVN in der DDR 1953 wurde der Gedenktag dort – nun in staatlicher Regie – fortgesetzt. Er wurde ein Tag, an dem die DDR ihr antifaschistisches Selbstverständnis dokumentierte. Dabei ging der ursprüngliche Gedanke, ein Gedenktag für alle Opfer des Faschismus, oftmals verloren. In der BRD und Westberlin wurde die Tradition regional unterschiedlich fortgeführt und es gelang teilweise, das antifaschistische Interesse von politischen Jugendorganisationen in dieses Gedenken zu integrieren.

Mit dem Ende der DDR und den damit verbundenen Herausforderungen für antifaschistische Arbeit schien dieser Gedenktag obsolet geworden zu sein. Es war dem neu gegründeten »Bund der Antifaschisten« zu verdanken, der im Sommer 1990 dazu aufrief, am zweiten Sonntag im September einen »Tag der Erinnerung, Mahnung und Begegnung« zu begehen. Man wollte an das ursprüngliche überparteiliche Konzept anknüpfen. Unter dem Motto »Antifaschismus ist Humanismus in Aktion« versammelten sich am 9. September 1990 mehrere Tausend Menschen aus ganz Berlin im Lustgarten. Die Themen waren sehr breit: Erinnerung an die Frauen und Männer aus Widerstand und Verfolgung, für Toleranz und Solidarität sowie gegen das Erstarken rassistischer, nationalistischer und neuer faschistischer Kräfte. Dass dieses Anliegen von einem breiten Spektrum in der Gesellschaft getragen wurde, zeigt die Liste der Rednerinnen und Redner. Genannt seien nur die Journalistin Lea Rosh, der evangelische Altbischof Albrecht Schönherr, der Schriftsteller Stephan Hermlin, der Vorsitzende der Ostberliner Jüdischen Gemeinde, Peter Kirchner, und der Rektor der Humboldt-Universität Heinrich Fink.

Ein Jahr später wurde immer wieder darum gerungen, diesen »Tag der Erinnerung, Mahnung und Begegnung« in Berlin mit den aktuellen Auseinandersetzungen und geschichtspolitischen Debatten zu verbinden. Aktionsformen wie Fahrradtouren zu Stätten des Widerstands und der Verfolgung, Gesprächsrunden mit Zeitzeugen sowie Jugendforen und Aktionsorientierung wurden erprobt. Neben Podiumsdiskussionen fanden Kulturprogramme statt, es gab Diskussionsrunden und Ausstellungen. Die beteiligten Gruppen präsentierten sich mit Büchertischen und Infoständen, an denen sie ihre Arbeit und Projekte vorstellten. Es ging zunehmend nicht mehr nur um Gedenken, sondern um gesellschaftliches Handeln gegen Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und extreme Rechte im Alltag, um ein gleichberechtigtes Miteinander von Menschen unterschiedlicher Herkunft, Sprache, Religion oder Hautfarbe, mit verschiedenen Lebensentwürfen und Überzeugungen. Der Anspruch dieses Tages war und ist es, in der Auseinandersetzung mit dem deutschen Faschismus aktuelle Entwicklungen und tagespolitische Debatten aufzugreifen.

Nachdem in der Coronazeit öffentliche Veranstaltungen weitestgehend unmöglich waren, hat der »Tag der Mahnung und Begegnung« in den vergangenen Jahren wieder einen Neuanfang gestartet. Ein Problem ist der oftmals wechselnde Ort. Er fand bereits in Tempelhof statt, mal in Kreuzberg, 2023 und 2024 vor dem ND-Haus – in diesem Jahr in Neukölln. Immer wieder geht es darum, deutlich zu machen, dass dieser zweite Sonntag im September kein x-beliebiger Tag ist, sondern in der Tradition der Frauen und Männer aus Widerstand und Verfolgung steht. Dies muss selbst jungen Mitgliedern der VVN-BdA, die erst in den vergangenen Jahren den Weg in die antifaschistische Organisation gefunden haben, vermittelt werden.

Wenn man den berühmten Satz »Nicht die Asche, sondern die Glut bewahren« ernst nimmt, dann sollte der zweite Sonntag im September nicht nur in Berlin, sondern auch in anderen Teilen der BRD zum Gedenk- und antifaschistischen Aktionstag gemacht werden. Er ist der Tag der antifaschistischen Bewegung, anders als der Gedenktag am 27. Januar, an dem hierzulande vorrangig der Opfer des Holocaust gedacht wird, obwohl es doch eigentlich der Tag der Befreiung des KZ Auschwitz durch die sowjetischen Streitkräfte war.

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