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Aus: Ausgabe vom 21.08.2025, Seite 10 / Feuilleton
Fotografie

Stadt als Tatort

Günstig zu haben: Die Fotografieausstellung »Berlin eins – Die Neunziger« im Haus am Kleistpark dokumentiert den Ausverkauf der Metropole nach dem Mauerfall
Von Matthias Reichelt
Peter Thieme, »Karl-Liebknecht-Straße« (1994)
Nelly Rau-Häring, »Potsdamer Platz im Bau« (November 1999)
André Kirchner, »Bessel-, Ecke Charlottenstraße« (2000)

Neben vielen Fotografien, die die Wandlung Berlins nach dem Mauerfall zeigen, sind auch Bilder der Großbaustelle Potsdamer und Leipziger Platz in den 1990er Jahren in der Ausstellung »Berlin eins – Die Neunziger« im Haus am Kleistpark in Berlin-Schönberg zu sehen. Eine enorm wichtige Ausstellung mit Werken von André Kirchner, Nelly Rau-Häring und Peter Thieme, die belegt, wie unverzichtbar Stadt- und Straßenfotografie ist, um den Gang der Geschichte auch visuell nachvollziehen zu können.

André Kirchner kam 1981 aus München zum Studium nach Westberlin, entdeckte für sich die Fotografie und hängte das Studium an den Nagel, nachdem er sich autodidaktisch das Fotografieren beigebracht hatte. Er gilt heute als einer der wichtigen Chronisten Berlins. Peter Thieme stammt aus der DDR, studierte an der renommierten Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig. Die Schweizerin Nelly Rau-Häring hatte nach dem Bau der Mauer mehrere Jahrzehnte in Westberlin als freie Fotografin gelebt und dort sowie auch in Ostberlin die Menschen in den Straßen fotografiert. Sie arbeitete für diverse Zeitungen und Stadtmagazine, bevor sie Berlin den Rücken kehrte und wieder in die Schweiz zog. Das Zusammenwachsen der beiden Stadthälften nach dem Fall der Mauer hat alle drei dazu gebracht, diesen Prozess aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu dokumentieren. Während André Kirchner und Peter Thieme ihren Fokus jeweils mit Großbildkamera und Stativ auf die architektonischen Veränderungen legten, interessierte sich Nelly Rau-Häring eher für die Menschen im öffentlichen Raum. Die historische Zäsur mit dem Anschluss der DDR ließ bei Kapital und Spekulanten eine Goldgräberstimmung aufkommen. Nicht nur das Tafelsilber der DDR kam billigst in kolonialer Manier durch die Treuhand unter den Hammer, auch Grundstücke wie zum Beispiel die am Potsdamer und Leipziger Platz wurden vom Berliner Senat an Großkonzerne verscherbelt, um die teilungsbedingten Brachen schnellstmöglich zu bebauen und das alte Zen­trum Berlins wieder herzustellen. Doch Urbanität, so wurden Bedenken laut, kann nicht am Reißbrett entworfen werden, sondern muss allmählich entstehen. Nelly Rau-Härings Bild von spielenden Kindern auf einem Erdhügel vor der Kulisse des Potsdamer Platzes mit den neuen Hochhäusern signalisiert eine denkwürdige Ambivalenz zwischen Aufbau, Abriss und Geisterstadt.

Die Süddeutsche Zeitung beschrieb 2023 das Quartier als »Stadtviertel, in dem keiner wirklich sein will«. Und tatsächlich hat der ganze Ort einen merkwürdigen Charakter, seit die Deutsche Kinemathek, das Filmhaus und das Arsenal weggezogen sind, die Berlinale dort auch kaum mehr ihren zentralen Ort hat und die Potsdamer-Platz-Arkaden als vorgeblicher Fresstempel vor sich hin dümpeln. Auch wenn dort Touristen flanieren, ist von lebendiger Urbanität nichts zu spüren. Daimler-Benz veräußerte seinen Sitz samt 500.000 Quadratmetern Grund, den der Konzern zum Schnäppchenpreis von etwas über 2.000 D-Mark pro Quadratmeter erworben hatte, bereits 2007 wieder, und auch Sony hat den Platz drei Jahre später verlassen und das Hauptgebäude veräußert.

»Aber ist nicht jeder Fleck unserer Städte ein Tatort?« fragte Walter Benjamin in seiner »Kleinen Geschichte der Photographie«. Ja, Tatort von Stadtplanern, Politikern, Investoren und Architekten, die dazu beitragen, dass »Stadt« ständig (nicht nur positiven) Veränderungen ausgesetzt ist. André Kirchner und Peter Thieme weisen mit ihren Fotografien auf die Rasanz der Veränderung in jenen 1990er Jahren hin. Thieme zeigt einen DDR-Neubau an der Kronenstraße Ecke Friedrichstraße, der schon lange nicht mehr existiert. Auch die städtebaulichen Szenerien in der Georgen- und Charlottenstraße haben sich gehörig verändert. Die Bilder der beiden Stadtfotografen repräsentieren zum Teil einen vergangenen architektonischen Zustand, der gelöscht und überbaut wurde. In Nelly Rau-Härings wunderbaren Straßenfotografien, unter anderem vom Abzug US-amerikanischer und sowjetischer Soldaten, wird eine Ära aufgerufen, die kurze Zeit als Ende des Kalten Kriegs verstanden wurde. Fälschlicherweise, wie spätestens seit dem völkerrechtswidrigen Jugoslawien-Krieg und der sukzessiven NATO-Osterweiterung als Wortbruch des im Rahmen der Verhandlungen zum Zwei-plus-vier-Vertrag abgegebenen Versprechens klar wurde.

In den Fotografien aller drei Fotografen können die Besucher unter vielen Aspekten detektivische Forschung betreiben. In einem Foto der mit neuer Architektur versehenen Straßenecke Besselstraße/Charlottenstraße aus dem Jahr 2000 von André Kirchner ist ein Werbeplakat für einen preiswerten Arcor-Tarif zu sehen, das unter dem Motto »Günstig zu haben« ein nur leicht bekleidetes weibliches Model telefonierend zeigt. Solch ein eklatanter Sexismus wäre heute wohl kaum noch möglich.

André Kirchner, Nelly Rau-Häring, Peter Thieme, »Berlin eins – Die Neunziger«, Haus am Kleistpark, Grunewaldstr. 6/7, Berlin-Schöneberg, Di. bis So. 11–18 Uhr, Eintritt frei, bis 28.9.

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