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Aus: KI, Beilage der jW vom 09.07.2025
KI und Staat

Des Kaisers neue KI

Ob G7 oder Afrikanische Union: Staatenbündnisse dienen sich Kapitalisten und ihrem Geschäft mit künstlicher Intelligenz an
Von Marc Bebenroth
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Irres Treffen vor malerischer Kulisse: Die KI wurde beauftragt, die Zusammenkunft der G7-Staatschefs abzubilden

Sie stellten auch zwei Webstühle auf, taten, als ob sie arbeiteten, aber sie hatten nicht das geringste auf dem Stuhle. Trotzdem verlangten sie die feinste Seide und das prächtigste Gold, das steckten sie aber in ihre eigene Tasche und arbeiteten an den leeren Stühlen bis spät in die Nacht hinein.

Hans Christian Andersen (»Des Kaisers neue Kleider«, 1837)

In der gleichnamigen Erzählung war der Zauberer von Oz ein Betrüger, wenn auch ein gutherziger. Er inszenierte sich als magisches Genie, das eine Smaragdstadt errichtet und im Land diverse Wunder vollbringt. Am Ende entpuppt er sich als Mann hinter einem Vorhang mit einer ausgeklügelten Apparatur unter seiner Kontrolle. So passend das als Allegorie für KI-Systeme selbst ist, die uns allerhand Technikwunder vorspiegeln: Viel treffender für das kapitalistische Globalprojekt dahinter dürften die zwei Weber in Hans Christian Andersens Märchen sein.

Dabei übersteigt die Realität das begrenzte Szenario in »Des Kaisers neue Kleider«. Die Zahl der KI-Weber scheint Legion. Und statt einen einsamen Monarchen erleichtern sie ganze Staatenbündnisse um Unsummen. Den Regierungen der USA, der EU, Afrikas und des Pazifikraums versprechen KI-Kapitalisten ökonomischen Aufschwung ungekannten Ausmaßes, Wachstumsraten, wie sie die industrialisierte Welt des globalen Nordens seit Jahrzehnten nicht mehr verzeichnet hatte. Es wirkt. Alle reden von KI. Die alten, etablierten Kapitalfraktionen, sei es in der Industrie oder im Dienstleistungssektor, haben derweil die lukrativen Möglichkeiten erkannt, massenhaft menschliche Arbeitskraft durch KI-Systeme zu ersetzen, vor allem in Bereichen, die von repetitiver, administrativer oder kommunikativer Arbeit geprägt ist.

G7-Plan für »Prosperität«

Ihr jüngstes Bekenntnis haben die Staats- und Regierungschefs der »Gruppe der sieben« (G7) im kanadischen Kananaskis abgegeben. Das laut Bundesregierung »informelle Forum der sieben führenden Industrienationen und Demokratien« der Welt hat am 17. Juni ein somit von Kanada, Frankreich, Italien, Großbritannien, Deutschland, Japan, den USA sowie von der EU getragenes KI-Papier veröffentlicht. »Wir, die Anführer der G7, erkennen das Versprechen rapide voranschreitender KI-Technologien an, Wettbewerbsfähigkeit zu erschließen und nie dagewesene Prosperität für Firmen, Organisationen und Länder zu liefern, die sie in ihre Geschäftsabläufe integrieren«, heißt es darin.

Damit nicht genug: »Wir erkennen das Potential eines menschenzentrierten Ansatzes für künstliche Intelligenz (KI) an, um den Wohlstand wachsen zu lassen, Gesellschaften zu nützen und drängende globale Herausforderungen anzugehen.« Unter »Human-Centered AI«, kurz HCAI, verstehen »Interaktionsdesigner« einen Ansatz bei der Entwicklung von KI-Systemen, bei dem die Bedürfnisse, Wertvorstellung und Möglichkeiten des Menschen an erster Stelle stehen. Mit Blick auf das Vermögen, menschliche Arbeitskraft durch Softwareprodukte zu ersetzen, dürfte »Human-Centered AI« – allen wohligen Werbeworten zum Trotz – tatsächlich der weitaus folgenschwerere Ansatz sein.

Folgt man der Definition der – vom deutschen Softwareriesen SAP mitfinanzierten – International Design Foundation, soll der Einsatz im Bildungswesen nicht nur das Benoten oder Erzeugen »generischer« Lerninhalte bieten. HCAI soll demnach »adaptive Lernplattformen erschaffen, die Inhalt und Lehrmethoden den individuellen Lernmustern, Vorlieben und Bedürfnissen der Schüler anpassen« – kurzum Lehrpersonal verzichtbar machen. Im Bereich der psychischen Gesundheitsversorgung biete HCAI »Therapie und Unterstützung, die sensibel und respektvoll gegenüber dem psychologischen Zustand des Patienten« seien. Die nächste Entwicklungsstufe von KI soll HCAI auch bei der automatisierten Kontrolle computerisierter Wohnräume sein. Die angeblich menschenfreundlichere KI-Version »designt Smart-Home-Systeme, die die Routine und Vorlieben der Bewohner lernen und sich ihnen anpassen«. Geschaffen werde eine Umgebung, die »nicht nur effizient, sondern zugleich komfortabel« sei und zur »Steigerung des Wohlbefindens« beitrage.

Ideelle Gesamtkapitalisten

Die G7-Staaten erlegen sich selbst die Pflicht auf, verstärkt »Innovationen« voranzutreiben sowie besser dafür zu sorgen, dass »sichere, verantwortungsvolle und vertrauenswürdige« KI-Systeme Verbreitung finden. Diese sollen der Bevölkerung nutzen, »negative Externalitäten« – BWL-Sprech für den Schaden, den andere dann haben – eindämmen und darüber hinaus auch noch die »nationale Sicherheit« fördern. Einmal flächendeckend im Staatsapparat implementiert, werde KI zu ungeahnter Effizienz der Verwaltungsabläufe führen, zum Nutzen der Unternehmen und der Bevölkerung. Deshalb werden die G7-Chefs ihre »zuständigen Minister damit beauftragen, strategische Investitionen auszukundschaften, um den Einsatz von KI im öffentlichen Sektor zu beschleunigen« – einschließlich sogenannter Large Language Models (LLM), die unter der Haube von Chatbots wie Chat-GPT stecken.

Die Technologie dahinter ist das Produkt der Kombination von Systemen maschinellen Lernens und Big Data. Beim maschinellen Lernen wird ein komplexes Softwaresystem mit unzähligen Inputdaten gefüttert, um daraufhin in neuem Material antrainierte Muster erkennen zu können. Bislang frisst allein dieser Trainingsvorgang mehr Energie, Zeit und Daten, als dafür benötigt werden, beispielsweise einem Menschen zu erklären, nach welchen Ungereimtheiten er am Fließband achten soll. Langfristig allerdings wird von KI-Systemen erwartet, in deutlich höherer Geschwindigkeit als dieser Mensch eine ungemein größere Menge an Werkstücken auf Ungereimtheiten zu untersuchen. In der Skalierung dieser Form der Automatisierung liegt der große Vorteil für den Kapitalisten. Big Data bedeutet wiederum das Horten riesiger Datenbestände, inklusive Erschließen immer neuer gesellschaftlicher Sphären als eine Art Datenallmende, die es zu privatisieren gilt.

Die G7 wollen dem Papier zufolge auch dafür Sorge tragen, dass den Kapitalisten in Zukunft »resiliente Arbeitskräfte« zur Verfügung stehen, die als »KI-befähigte Arbeiter« die »KI-getriebene Transition« bewerkstelligen. Die Staaten sind sich übrigens im klaren darüber, dass eine weiter wachsende Verbreitung von KI-Systemen »wachsenden Druck auf unsere Energienetze« ausüben und »Implikationen« für Energiesicherheit, Resilienz und Bezahlbarkeit mit sich bringen werde. Aber nicht verzagen, denn: Man werde »Innovationen« befördern, die KI-Modelle energieeffizienter machen und den Betrieb der Rechenzentren »optimieren« sowie bessere Netze entwerfen können.

Zwei Tage bevor das G7-Treffen zum Abschluss kam, hatten die kanadische und die britische Regierung einen Deal mit dem kanadischen KI-Unternehmen Cohere bekanntgegeben. Am 15. Juni informierte die Firma die Öffentlichkeit über die »Partnerschaft« mit Ottawa und London. Cohere ist spezialisiert auf LLM. Der Deal decke die Implementierung »sicherer KI-Lösungen« und Spitzenforschung ab, um den öffentlichen Dienst und die »nationale Sicherheit« zu stärken. »Robuste Sicherheitsmaßnahmen sind unverzichtbar für den beschleunigten Einsatz von KI im öffentlichen Sektor«, erklärte Cohere. Die Vereinbarung bedeute »einen weiteren großen Schritt zur Ausdehnung unserer globalen Präsenz«.

Globales Wettrennen

Bereits im August 2024 hatte die Afrikanische Union (AU) ihre kontinentale KI-Strategie veröffentlicht. Auch hier ist die Rede von »gewaltigen Gelegenheiten für inklusive Entwicklung«: Arbeitsplätze schaffen, den Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen verbessern, die Landwirtschaft voranbringen, Bildung und Gesundheit, Zugang zu Informationen verbessern, die Umwelt sowie die natürlichen Ressourcen schützen usw. Immerhin spart das vom AU-Kommissar für Infrastruktur und Energie, Amani Abou-Zeid, gezeichnete und 66seitige Papier nicht mit den negativen Konsequenzen ungezügelter KI-Systeme. Ziel müsse sein, auf dem Kontinent das gesamte »Ökosystem«, welches zum Betrieb und zur Weiterentwicklung von KI-Systemen benötigt wird, selbst aufzubauen.

Frühere Gipfeltreffen betonten, die Technologie regulieren zu wollen. Mittlerweile ist der Zug offenbar abgefahren, mit Volldampf Richtung KI-Gesellschaft. Und was als ethischer Alternativansatz angepriesen wird, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als viel übergriffigere Vision eines umfassend softwaregesteuerten Lebens.

Marc Bebenroth ist Redakteur für Innenpolitik der Tageszeitung junge Welt und schreibt unter anderem auch über aktuelle politische Entwicklungen rund um künstliche Intelligenz (KI)

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