Gipfel der Zerstrittenheit
Von Jörg Kronauer
Die trockenste Einschätzung zum G7-Gipfel im kanadischen Kananaskis, der am Dienstag (Ortszeit) zu Ende ging, kam vom Atlantic Council, einem der wohl einflussreichsten transatlantischen Thinktanks mit Sitz in Washington. Manchmal komme es mehr darauf an, »was nicht geschehen sei«, als auf das, was man erreicht habe, hieß es in einer Einschätzung durch die Denkfabrik. Keine gemeinsame Abschlusserklärung; »bedeutende Zerwürfnisse bei entscheidenden internationalen Themen«; keine Annäherung in harten ökonomischen Konflikten, sprich: bei den Trumpschen Zöllen – und die Liste ging weiter. Der Atlantic Council, der dem G7-Format große Bedeutung zumisst, ließ keinen Zweifel aufkommen: Die Lage für die G7 ist ernst.
Kanadas Premierminister Mark Carney, dessen Land aktuell die G7-Präsidentschaft innehat, gab sich jede erdenkliche Mühe, die offensichtlichen Risse in dem Zusammenschluss zu übertünchen. Er legte nach Abschluss des Gipfels sechs Erklärungen vor, darunter eine zur Verschärfung des Vorgehens gegen unerwünschte Migration, eine weitere zum Kampf gegen Waldbrände, darüber hinaus jeweils eine zu einer engeren Kooperation in Sachen künstliche Intelligenz (KI) und Quantentechnologie. Es hieß, es handle sich um »gemeinsame« Erklärungen, wobei unklar blieb, was das genau bedeuten soll; US-Präsident Donald Trump hatte vor seiner vorzeitigen Abreise am Montag abend keiner von ihnen zugestimmt. Am Dienstag wurde er von Finanzminister Scott Bessent vertreten.
In Sachen Ukraine-Krieg legte Carney eine »Zusammenfassung des Vorsitzes« vor, in der es hieß, man setze sich gemeinsam für »einen gerechten und dauerhaften Frieden in der Ukraine« ein. Man erkenne an, dass Kiew einem bedingungslosen Waffenstillstand zugestimmt habe, und sei sich einig, Russland müsse dasselbe tun. Zudem sei man fest entschlossen, »alle Optionen« zu prüfen, um den Druck auf Moskau zu erhöhen. Auf Nachfrage behauptete Carney, es habe diesbezüglich keinerlei Differenzen gegeben – eine Behauptung, die sogar das transatlantisch orientierte Onlinemagazin Politico mit Blick auf die offen zutage getretenen Unstimmigkeiten als »dummes Gerede« einstufte. Trump war nicht einmal bereit gewesen, den eigens angereisten ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskij zu treffen. Quasi als Ausgleich kündigte Carney neue kanadische Russland-Sanktionen sowie Ukraine-Hilfen von zwei Milliarden kanadischen Dollar an.
Relevantes gab es allerdings am Rande des Gipfels. Kanada und Indien einigten sich, ihre Botschafter wieder in das jeweils andere Land zu entsenden. Damit wird eine diplomatische Krise beendet, die im September 2024 begonnen hatte, nachdem die kanadischen Behörden zu dem Schluss gekommen waren, die Ermordung eines aus Indien stammenden kanadischen Sikh-Aktivisten gehe auf das Konto des indischen Geheimdiensts. Die Wiederannäherung ist auch für die G7 von Bedeutung, da über eine engere Zusammenarbeit zwischen den G7 und Indien bis hin zu einer Aufnahme des Landes diskutiert wird – zum Ausbau der gemeinsamen Frontstellung gegen China.
Zudem kündigte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nach Gesprächen mit Australiens Premierminister Anthony Albanese an, Brüssel werde Verhandlungen über eine »Sicherheits- und Verteidigungspartnerschaft« mit Canberra einleiten. Auch das richtet sich gegen China. Intensiviert werden soll nicht zuletzt die Rüstungskooperation. Für Canberra ist das aktuell um so wichtiger, als kürzlich bekannt wurde, dass Washington das trilaterale Militärbündnis AUKUS mit Australien und Großbritannien überprüft. Kommt Trump zu dem Schluss, es sei für die USA nicht vorteilhaft, könnte Australien rüstungstechnologisch im Regen stehen.
Bundeskanzler Friedrich Merz beteiligte sich nach dem Gipfel an den Bemühungen, die Zerstrittenheit der G7-Länder wegzureden. Er sei »sehr zufrieden mit dem Verlauf«, behauptete er. Aber was soll man auch von einem Kanzler erwarten, der sich für einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg, der schon jetzt Hunderte Todesopfer forderte, mit der Äußerung bedankt, Israel habe dem transatlantischen Bündnis im Iran »die Drecksarbeit« abgenommen.
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