Wie Maschinen arbeiten
Von Marc Bebenroth
Am Ende geht es nicht ohne die Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft. Die Maschinen in den großen Rechenzentren der modernen Zauberer von Oz verschlingen nicht nur Unmengen an Elektrizität und Wasser. Gefüttert werden die »KI-Fabriken« (Ursula von der Leyen) nicht nur mit in aller Welt zusammengeraubten Werken oder gekauften Daten. Unerlässlich sind auch Lohnsklaven in den Ländern des globalen Südens. Über das alles wollen Ingo Dachwitz und Sven Hilbig mit ihrem Band »Digitaler Kolonialismus« aufklären.
Ausgebeutet werden die Männer und Frauen hinter dem Ozschen Vorhang von Kapitalisten, die ihre Dienste den großen Konzernen anbieten. Eines dieser Outsourcing-Unternehmen ist Sama. In Kenias Hauptstadt Nairobi betreibt es seinen größten Standort auf dem afrikanischen Kontinent. Weitere unterhält Sama in Uganda, Indien und Costa Rica. Zu den Kunden zählen »fast ausschließlich Firmen aus dem globalen Norden«, darunter Alphabet (Google, Youtube), Meta (Instagram, Facebook, Whats-App) und Microsoft (Open AI).
Dachwitz und Hilbig erhielten Einblick in die Arbeitsbedingungen und lassen Sama-Arbeiter zu Wort kommen. Sie müssen »teils schwer traumatisierende Tätigkeiten« verrichten, »die für den Erfolg von Techkonzernen unabdingbar sind«: Daten sortieren, Algorithmen trainieren, Inhalte moderieren. Aufgaben, »die in den USA oder Europa kaum jemand übernehmen möchte, jedenfalls nicht zu dem Lohn, den die Konzerne hier zahlen«. Unabdingbar ist ihre Arbeit, da KI-Systemen mühsam beigebracht werden muss, die von den Unternehmen gewünschten Ergebnisse zu produzieren.
Die Arbeiterinnen und Arbeiter müssen den Programmen auf die Sprünge helfen, wenn sie schlicht Falsches ausspucken. Vor allem aber müssen sie für Anwendungen wie Chat-GPT »in die Hölle« schauen, sprich: die im Trainingsmaterial enthaltenen, teils grausamen Darstellungen als unerwünscht markieren – »Vergewaltigungen und Hinrichtungen, Kindesmissbrauch und Sodomie« sowie »detaillierte Schilderungen von Folter, Selbstverletzung oder Hinrichtungen«. Ein Arbeiter berichtet von täglich 600 bis 700 Fällen »mit potentiell traumatisierenden Inhalten«, die er im Akkord und innerhalb von »lediglich 30 bis 40 Sekunden« entscheiden musste. Andere sollten demnach für Chat-GPT Hunderte lange Texte pro Woche lesen und mit passenden Etiketten versehen. Alles unter strengster Aufsicht. Ein Arbeiter spricht von Micro-Managern, »die jeden kleinen Schritt überwachen wollen, damit wir wie Maschinen arbeiten«.
Die Arbeitsverträge laufen spätestens nach drei Monaten aus. »Wer zwei US-Dollar die Stunde verdient, kann sich glücklich schätzen«, wird Adio Dinika von der Universität Bremen zitiert, der für seine Feldforschung zahlreiche Arbeitsverträge einsehen konnte. In Nairobi sind es oft »1,50 Dollar pro Stunde oder gar noch weniger«. Dinika berichtet von Schichtlängen von bis zu zwölf Stunden, die mit besonderem Zeitdruck eines Projekts begründet werden. 54 oder gar 60 Wochenstunden seien dann normal.
Die Autoren nennen viele weitere Anwendungsgebiete, für die Menschen rund um die Uhr schuften, um gegenüber den Kunden zu verschleiern, dass die Technologien den Versprechungen der KI-Kapitalisten nicht gerecht werden. Einer Entwicklungsökonomin der ILO zufolge müsse »von Dutzenden Millionen« jener Geisterarbeiter in der Techindustrie ausgegangen werden. Der Intransparenz der Branche sei geschuldet, dass eine genaue Erfassung bislang nicht möglich ist.
Bewerte man die von den Konzernen und ihren Systemen aufgesaugten Daten als eine Form von Herrschaftswissen, dann sind Dachwitz/Hilbig zufolge »Automatisierung und KI zu Algorithmen geronnene koloniale Macht«. Eine »koloniale Kontinuität« machen die Autoren vor allem anhand der Länder fest, in denen besagte Outsourcing-Betriebe angesiedelt sind. So seien die größten »Importeure von Techarbeit« ehemalige britische Kolonien wie Indien, Kenia, Bangladesch und Pakistan. Die Liste setzt sich fort mit den Philippinen, Kolumbien, Brasilien, Mexiko und Argentinien. Französische Outsourcing-Unternehmen sind demnach vor allem in der ehemaligen französischen Kolonie Madagaskar aktiv.
Indien wird auch als Beispiel dafür genannt, dass das Entwicklungsversprechen von einst nicht eingelöst wurde. Statt eine eigene Industrie aufzubauen, lösen nun »schlecht bezahlte Arbeitskräfte die Probleme für Konzerne aus dem globalen Norden«. 2022 und 2023 hatten demnach »nahezu alle« outgesourcten KI-Arbeitskräfte Universitätsabschlüsse, nicht wenige in den sogenannten MINT-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik). Die Arbeiter wurden häufig »unter falschen Voraussetzungen in die schlecht bezahlten Jobs gelockt«. Arbeitskraft, die früher beispielsweise in der nationalen Softwareentwicklung ausgebeutet wurde, dient nunmehr der »Datenannotation und Content-Moderation«. Die Arbeiter berichten, dass dafür »Schulwissen aus der zehnten Klasse« reiche.
Europa selbst kommt die Rolle einer »Datenmine« zu, wobei die EU-Kommission darauf bedacht ist, den Silicon-Valley-Oligarchen Grenzen aufzuzeigen sowie europäischen Kapitalisten auch durch eigene Großprojekte »Wettbewerbsvorteile« zu schaffen. Auch die Volksrepublik China trete im Zuge der Digitalisierung »mehr und mehr selbst als neokolonialer Akteur« auf. Beijing dominiere globale Rohstoffmärkte, treibe »andere Länder über schuldenfinanzierte Infrastrukturprojekte in die Abhängigkeit« und exportiere »Überwachungsprodukte«.
Zum »digitalen Kolonialismus« zählen Dachwitz/Hilbig auch das globale Eindringen von Software in die landwirtschaftliche Produktion. So werde nicht nur der Boden ausgebeutet, sondern als eine Art ursprünglicher Akkumulation 2.0 – die Autoren sprechen von »digitaler Enteignung« – auch die dabei anfallenden Daten. So gehört mit »Climate Fieldview« eine der »erfolgreichsten« Anwendungen zur »Datafizierung der Landwirtschaft« dem Bayer-Konzern. Dieser dementiere, die gewonnenen Informationen weiterzuverkaufen, kann diese aber ebenso gut für das Training von Machine-Learning-Systemen verwerten, »die er für Forschung an neuen Samenarten und Pestiziden nutzen kann«.
Dachwitz und Hilbig betrachten praktisch alle Aspekte der Digitalisierung im allgemeinen und des KI-Hypes im besonderen. Wer sich zuvor bereits mit der Materie befasst hat, findet in manchen Kapiteln wenig Neues. Aber das Ausleuchten der materiellen Grundlagen und der politischen Ökonomie dahinter ist ein wertvoller Beitrag, den bisherige deutschsprachige Veröffentlichungen zum Thema vermissen ließen.
Ingo Dachwitz, Sven Hilbig: Digitaler Kolonialismus. C. H. Beck, München 2025, 351 Seiten, 28 Euro
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