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Aus: Alternatives Reisen, Beilage der jW vom 21.02.2024
Alternatives Reisen

Auf den Straßen Vietnams

Über die Schwierigkeiten des Flanierens in einem Land, das sich in einer kapitalistischen Welt durchschlägt
Von Kai Köhler
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Für die Ewigkeit festgehalten: Tagebuchabbildung zu Schabasch in Afghanistan

Ein paar Wochen vor Reisebeginn ging es um mögliche Themen für Artikel über Vietnam. Einer meiner Vorschläge lautete, dort durch die Straßen zu flanieren und von meinen Eindrücken zu berichten. Das war naiv.

Ein Flaneur hätte in Hanoi wie in Ho-Chi-Minh-Stadt eine überschaubare Lebenserwartung. Nicht nur stellt die Überquerung so mancher Straße eine Herausforderung dar – auch viele Gehwege sind vollgestellt, mit Verkaufsständen, Restaurantmöbeln und mit Mopeds, die gerade nicht auf jenen Straßen unterwegs sind, auf die es dann auszuweichen gilt.

Die Fahrweise lässt sich mit Wörtern bezeichnen wie: zielstrebig, entschlossen, optimistisch. Es passiert nicht nichts – in gut drei Wochen sah ich zwei Unfälle, jeweils mit leichten Verletzungen. Doch vermögen die Fahrer meist zu kalkulieren, wo sich ihre Mitmenschen bei gleichbleibender Bewegung in drei oder zehn Sekunden befinden werden, und richten sich darauf ein. So blicken sie auch auf querende Fußgänger. Wenn die aber zurückscheuen, der Rhythmus also gestört wird, dann droht Gefahr.

Natürlich begriff ich das. Dass ich dann zögernd auf der Straße darüber reflektierte, weitergehen zu sollen, verbesserte die Lage nicht. So blieb ich oft am Straßenrand und schaute mich um. Was ich dabei sah, und später aus Bussen und Zügen, war überraschend genug.

Ich hatte in Vietnam, zumal im Norden, mit erheblichen Kriegsschäden gerechnet. Tatsächlich sind auch in Hanoi und umliegenden kleineren Städten etliche Häuser aus der französischen Kolonialzeit erhalten. Dabei ist kein Klein-Frankreich entstanden. Mit oft sehr schmaler Straßenfront, drei bis fünf Etagen und großer Tiefe gibt es einen eigenen Haustyp. Dazu gehört – außerhalb der Stadtzentren – zuweilen eine Terrasse für warme Abende, also für fast alle. Gleichförmigkeit findet man nicht.

Was gelesen wird

Es ist heiß, eine klimatisierte Buchhandlung in Ho-Chi-Minh-Stadt verspricht Abkühlung. Auf den ersten Blick fällt auf, wie großzügig die Bereiche für Kinder- und Jugendliteratur sind. Die Bücher sind, auch gemessen an vietnamesischen Einkommen, erschwinglich.

Was wird übersetzt? Offensichtlich vor allem aus dem Amerikanischen. Stephen King und John Grisham sind stapelweise verfügbar. Aus dem ostasiatischen Raum sind Südkorea und Japan gut vertreten, China kommt nicht vor. Man kann ein paar englische, französische und russische Klassiker kaufen, an sowjetischer Literatur gibt es nur einen der Stalingrad-Romane von Wassili Grossman. Deutschsprachige Werke sind von W. G. Sebald, Carl Zuckmayer, Stefan Zweig, Friedrich Dürrenmatt und Herta Müller vorhanden; kein Brecht, nichts aus der DDR, aber seltsamerweise Friedrich de la Motte Fouqués »Undine« in sieben Exemplaren.

Und die Theorie? Marx, Engels, Lenin fehlen. Sogar Ho Chi Minh ist nur mit schmalen Best-of-Bändchen vertreten. Von Georg Lukács gibt es eine kleine Auswahl von Essays in der Ecke zur Literaturtheorie. Lesen kann man dagegen von oder über John Stuart Mill, Friedrich Nietzsche, Hans-Georg Gadamer oder Jürgen Habermas; diese Aufzählung bürgerlicher Denker ist sehr unvollständig. Die plattere Version findet sich in der Ratgeberecke, mit Titeln wie »The Mind of the Leader«, »The Leader in Me« oder »The 3 Imperatives of Becoming a Great Leader«.

Zorn aber wäre ungerecht. Vietnam blieb nach 1990 keine andere Wahl, als sich in der kapitalistischen Welt durchzuschlagen. Das Notwendige führte notwendig zu Folgen, und nun wollen die Einzelnen ihr Leben möglichst gut leben.

Ein halber Wohlstand

Dies gelingt immer besser. In Ho-Chi-Minh-Stadt führte mich ein Freund durch ein aufstrebendes Viertel. Aufstrebend, das heißt: Ehemals arme Familien kommen zu einem gewissen Wohlstand. Die niedrigen Häuserchen, in denen sich die Generationen zusammenzwängten, werden abgerissen, und nun haben die Großeltern ihr eigenes Stockwerk wie auch die Jungen. Man bleibt also zusammen, kommt sich aber weniger in die Quere. Erhalten bleibt der Grundriss der Straßen oder besser gesagt: Gassen; erhalten bleibt auch die Nachbarschaft. So bestehen weiterhin in der Millionenstadt kleine Dörfer, in denen niemand allein bleibt, in denen freilich bald alle wissen, welches Mädchen von immerhin zwanzig Jahren erst nach Mitternacht heimgekommen ist. Eine tradierte Moral, wurde mir jedenfalls versichert, ist in dieser Zwischenschicht noch intakt. Vielleicht sind es die ganz Armen und die ganz Reichen, die sich darum weniger scheren.

Worin aber zeigt sich Tradition, worin Moderne? Das ist von außen gar nicht einfach zu beurteilen. So sah ich auf einer kleinen Baustelle zwei Arbeiterinnen, von denen die eine in kurzen Abständen der anderen Ziegelsteine zuwarf. Das neue, mehrstöckige Familienhaus wird auch deshalb genau an der Stelle des alten gebaut, damit die Geister der Ahnen sich weiterhin zurechtfinden. Und überhaupt sieht man kleine Ahnenaltäre in den ebenerdigen und bei Wärme abends oft offenen Wohnzimmern, die der halböffentliche Bereich sind, in dem Gäste empfangen werden. Ebensolche Altärchen finden sich in vielen Geschäften, Restaurants, Hotels.

Relikte der Vergangenheit oder Kraftquellen, um in den Kämpfen der Gegenwart zu bestehen? Vielfach ist das Leben noch hart. Die Sozialversicherungen sind lückenhaft, und die Straßenverkäuferinnen und die noch aufdringlicheren Schuhputzer nerven weniger, wenn man sich ihre Lage vergegenwärtigt. Ab und zu gibt es Bettlerinnen, im politischen Zentrum Hanoi seltener als in der Wirtschaftsmetropole Ho-Chi-Minh-Stadt. Auch die armen Straßenzüge, die ich nach dem aufstrebenden Stadtteil sah, sind kein Slum. Grobes Elend gibt es nicht mehr.

Miteinander

Ein paar Meter neben der Armut sind freilich Luxusapartmentblocks gebaut, mit Swimmingpools in den Höfen und internationalen Ladenketten im Erdgeschoss. Hier sind koreanische Geschäfte stark vertreten; überhaupt sieht man, auch durch Tourismus bedingt, an asiatischen Schriftzeichen fast ausschließlich koreanische. Hauptsächliche Fremdsprache ist allerdings Englisch. Ich setze mich in einen Park, ankommt ein bedauernswerter Schüler, dem es sichtbar graut vor der schrecklichen Hausaufgabe: mit einem echten Amerikaner zu sprechen. Er stammelt, ich geringfügig besser, und eine Freundin nimmt die Peinlichkeit auf, als Beweis für den Lehrer.

Immerhin hingen in den Straßen von Hanoi zahlreiche Flaggen, die ein Treffen zur Zusammenarbeit zwischen vietnamesischen und chinesischen Städten ankündigten. Und ein paar Plakate bereiten im etablierten sozialistischen Stil den für 2024 bevorstehenden 80. Jahrestag der Befreiung von der französischen Kolonialherrschaft vor. Doch wirken sie isoliert angesichts der Geschäftigkeit umher. Nicht minder fremd indessen erscheinen die Poster, die im westlichen Stil cleane Fußgängerzonen versprechen. Wer aber soll sich dort bewegen, wie erscheinen die Menschen?

Bei aller Unrast immer noch freundlich. Ja, als Tourist trifft man zumeist auf Dienstleister; kommt man aus einem deutlich wohlhabenderen Land, gilt man selbstverständlich als Geldquelle. Doch gehen die Leute nicht in ihrer Rolle auf. Drei Bustouren buchte ich zu Zielen in der Umgebung von Ho-Chi-Minh-Stadt. Die drei Reisebegleiter betreuten ihre Gruppen in ganz unterschiedlichem Stil – die Benimmregeln sind weniger rigide als weiter im Nordosten Asiens. Eine Straßenverkäuferin, die mich am fünften Tag zum fünften Mal beim Frühstück unterbrach, ironisierte mit rudimentärem Englisch die Lage (und schlug so immerhin ein für mich nutzloses Lesezeichen zu einem imaginären Preis los). Als ich im Dunkeln über einen Holperstein fiel (»flanieren«!), war gleich ein hilfreicher Jugendlicher zur Stelle. Er fuhr mich (da klammerte ich mich nun doch auf einem dieser gefürchteten Mopeds fest) Richtung Notaufnahme und verließ den Ort erst, als er sich vergewissert hatte, dass ich in Sicherheit war.

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