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Aus: Ausgabe vom 29.12.2025, Seite 7 / Ausland
Jahresrückblick Ukraine-krieg

Wenn drei sich streiten

Jahresrückblick 2025. Heute: Ukraine-Krieg. Brüssel versucht sich in Eigeninitiative, doch für USA und Russland sind Verhandlungen Chefsache
Von Reinhard Lauterbach
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Die europäischen Zahlesel im Weißen Haus (Washington, D.C., 18.8.2025)

Anfang Januar 2025 war formal noch Joe Biden Präsident der Vereinigten Staaten. Die Amtseinführung seines Nachfolgers Donald Trump erfolgte erst Ende des Monats. Diese Veränderung in der politischen Möblierung der US-Administration hat – bei aller Skepsis, die man gegenüber einer Personalisierung bürgerlicher Politik haben muss – offenkundig auch im Ukraine-Konflikt einiges in Bewegung gebracht. Vor allem aber hat sie dazu geführt, dass sich die EU daran gewöhnen musste, Ukraine-Politik auf eigene Faust zu machen. Mit fatalen Folgen.

Denn wenn zwei – die USA und Russland – versuchen, einen Konflikt unter sich zu klären, bleiben dem dritten – der EU – nur zwei Wege: sich entweder dem herrschenden Trend anzubequemen und damit die eigene Bedeutungslosigkeit implizit anzuerkennen oder genau umgekehrt zu versuchen, den beiden anderen den Deal zu verderben. Wenn letzteres gelingt, kann man sich und der Welt versichern, dass an der EU zumindest in Osteuropa nicht vorbeizukommen ist – selbst wenn sie schon, etwa in der Zollpolitik, vor Washington »auf den Brustwarzen robbt« und sich von Trump alles gefallen lässt. Das ist die Strategie, die das offizielle Brüssel und die europäischen Hauptstädte Berlin, Paris, Rom und auch Großbritannien eingeschlagen haben. Das Jahr 2025 stand diplomatisch im Zeichen der Entstehung einer »Koalition der Willigen« – nämlich der Willigen, die versuchen, den Krieg um jeden Preis zu verlängern, solange diesen Preis vor allem die Ukrainerinnen und Ukrainer zahlen. Das ist der EU teilweise gelungen.

Aus Donald Trumps vollmundiger Ankündigung, den Ukraine-Konflikt, »den es nie hätte geben dürfen«, innerhalb von »24 Stunden« oder zwei Wochen zu beenden, ist erkennbar nichts geworden. Doch es ist zumindest eine halbwegs konstante Linie der US-Administration zu erkennen: Sie unterstützt die Ukraine nicht mehr bedingungslos, hat nach dem Auslaufen der noch unter Biden bewilligten großzügigen Rüstungshilfe keine neuen Programme bewilligt und beliefert Kiew nur noch mit Militärgerät, das von der EU und Kanada bezahlt wird. Denn sie weiß, dass, falls die Ukraine kapitulieren oder auch nur die Bedingungen Russlands annehmen müsste, vor allem das Geld und Prestige der EU verspielt wären. Daher der im Dezember getroffene Beschluss der EU, aus dem eigenen Haushalt nochmals 90 Milliarden Euro zu mobilisieren, um die Ukraine zu finanzieren – angeblich für zwei Jahre, obwohl die Spatzen von den Dächern pfeifen, dass das nicht reichen wird.

All die fieberhaften Krisengipfel, Verhandlungen usw. haben bisher das entscheidende Stadium nicht erreicht: Verhandlungen zwischen der EU und Russland als eigentlichem Kriegsgegner. Brüssel geht es darum, von Washington berücksichtigt zu werden. Verhandlungen behalten sich jedoch die USA und Russland als Chefsache vor und zeigen erkennbar wenig Interesse, sich in dieses Geschäft eines globalen Resets von Kräften hereinreden zu lassen, die sie beide als drittrangig verachten. Moskau schaut sich das alles von der Seite an, genießt und schweigt.

Offiziell sind die Kriegsziele, die Wladimir Putin und Sergej Lawrow verkünden, seit Jahren dieselben: den NATO-Beitritt der Ukraine und die Stationierung von NATO-Truppen in der Ukraine zu verhindern. Dazu die Annexion von Teilen der Ukraine, die Russland als seine »historischen Territorien« (so Putin) beansprucht – weil sie im 18. Jahrhundert von Russland erobert wurden, als es noch gar keine Ukraine gab, oder weil sie in der frühen Sowjetunion von Lenin an die Ukraine »verschenkt« worden seien. Man kann das als historische Trugbilder betrachten; aber die Zeit arbeitet unterdessen für Moskau. Es muss überhaupt nicht dem Prinzip einer Feuereinstellung entlang der »Kontaktlinie« widersprechen. Es verschiebt diese Kontaktlinie einfach Woche für Woche zu seinen Gunsten. Von der Rücknahme der russischen Eroberungen seit 2022 – oder auch seit 2014 – phantasieren heute nur noch ukrai­nische Nationalisten und deutsche Grüne. Insofern kann Putin warten.

In den ersten Tagen des Jahres tobten die Kämpfe noch um den Kraftwerksstandort Kurachowo, etwa 20 Kilometer westlich von Donezk. Heute hat sich die Front gegenüber diesem Stand um etwa 50 Kilometer nach Westen und Nordwesten verschoben – aktuell bis in die Doppelstadt Pokrowsk/Mirnograd. Am Sonntag, kurz vor einem Treffen zwischen dem US-amerikanischen und dem ukrainischen Präsidenten in Florida, gab Putin in Uniform bekannt, Mirnograd sei eingenommen. Am Angriff auf den Ballungsraum Slowjansk-Kramatorsk im äußersten Nordwesten des Bezirks Donezk hält Russland ausdrücklich fest, das hatte Putin erst kurz vor Weihnachten noch einmal bekräftigt und auch einen ökonomischen Grund dafür genannt: Im Hinterland dieser beiden Städte beginnen Kanäle, die den ganzen Donbass mit Wasser versorgen. Aktuell kommt in Donezk, Makejewka, Gorlowka usw. nur jeden dritten oder vierten Tag Wasser aus der Leitung, und das sei, sagte der russische Präsident, eigentlich nicht trinkbar. Wenn er diese Wasserkrise offen zugibt, muss die Lage wirklich dramatisch sein.

Der Angriff auf Slowjansk scheint inzwischen nicht mehr aus Südosten, aus dem Raum Pokrowsk, geplant zu sein, sondern direkt aus dem Osten. Dort haben russische Truppen in den vergangenen Tagen die Stadt Sewersk erobert und westlich davon einige Geländegewinne gemacht. Auch der Eroberung des gesamten Gebiets Saporischschja sind die Russen zuletzt nähergekommen. Die Kämpfe verlaufen heute etwa 60 Kilometer westlich von Donezk um die Ortschaft Guljajpole, die laut Putins Bekanntmachung vom Sonntag nun ebenfalls eingenommen sei. Die Stadt war im russischen Bürgerkrieg Hauptquartier der anarchistischen Bauernrevolte unter Nestor Machno. Saporischschja ist auch direkt von Süden bedroht, wo die russischen Truppen entlang des ehemaligen Stausees von Kachowka nach Norden vorstoßen.

Das offizielle Kiew weigert sich beharrlich, über den Rückzug aus den Bezirken Donezk – wo die Ukraine noch etwa 20 Prozent des Territoriums kontrolliert – und Lugansk – das sie ohnehin bereits verloren hat – auch nur zu sprechen. Präsident Wolodimir Selenskij fürchtet, von einer Welle nationalistischen Unmuts hinweggefegt zu werden, wenn er die Regionen offiziell aufgibt. Und die EU sagt, es sei »Sache der Ukrainer«, über mögliche Zugeständnisse für einen Friedensschluss zu entscheiden. Einstweilen sollen sie weiterkämpfen, um Russland maximal zu schwächen. Obwohl die US-Geheimdienstkoordinatorin Tulsi Gabbard kurz vor Weihnachten klipp und klar gesagt hat: Die Annahme, Russland wolle die NATO angreifen, sei absurd. Wie denn, wenn es sich schon mit der Ukraine so schwertäte. Doch logisch zu denken, ist im Europa der EU nicht mehr angesagt. Brüssel träumt von der eigenen Bedeutung – auf Kosten der Ukraine.

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