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Aus: Ausgabe vom 12.12.2025, Seite 10 / Feuilleton
Oper

Die maskierte Femme fatale

Oscar Wildes und Richard Strauss’ »Salome« an der Komischen Oper in Berlin
Von Maik Wiesner
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Mal manisch, mal kontrolliert: Salome (Nicole Chevalier)

Die Zuschauer der »Salome«-Inszenierung an der Komischen Oper in Berlin bekommen das Gesicht der Sängerin nicht zu sehen. Ihr Antlitz bleibt die gesamte Aufführung über hinter einer weißen Maske verborgen. Der gewölbte Stoff erinnert an den Gesichtsschutz einer Fechterin und wirkt auch ein wenig eie ein Insektenauge.

Das Kostüm wehrt den männlichen Blick ab und kehrt das Blickregime um. Damit wird die feministische Stoßrichtung der Regie der Richard-Strauss-Oper nach dem Theaterstück von Oscar Wilde deutlich. Bei aller Liebe zum Boulevard schaut man hier nicht so unvermittelt dem Volk aufs Maul, dass eine kritische Haltung egal wäre.

Man wäre aber nicht in der Berliner Komischen Oper, würde man sich hier visuellen Reizen, kraftvollen Bildern und einer gewissen Lust am Abgründigen gänzlich verweigern, würde man nicht die »Perversion« genießen, die Richard Strauss ebenso wie die zeitgenössischen Besucher anzog. Die auch heute noch das Publikum anlockt, das vor allzu viel vorweihnachtlicher Besinnlichkeit Reißaus nimmt.

So emanzipiert und edel Salome (zugleich manisch und kontrolliert: Nicole Chevalier) in ihrem weißen Amazonen-Kleidchen über die Bühne schreitet, so lasziv und manipulativ kommt gleich am Anfang der Oper ihr schwarz gekleidetes tanzendes Double daher. Regisseur Evgeny Titov hat den Mut, Ambivalenzen auszuhalten. Schließlich ist eine Femme fatale im Zeitalter des Feminismus keine leicht zu handhabende Figur, die verführerisch schöne und zugleich teuflische Frau ist patriarchale Projektion und Empowerment-Figur zugleich.

Für Wilde/Strauss ist Salome zu einer Tat fähig, die sich dem Klammergriff des Patriarchats zwar nicht entwindet, den Predator, hier interpretiert als launische Jahrhundertwendefigur im verblichenen kupferfarbenen Anzug, aber doch moralisch vernichtet. Strauss verortet die weibliche Existenz in einem Paradoxon zwischen patriarchaler Kontrolle und einer Anziehungskraft, die Herrschaft und Ordnung aushebelt. Gewalt und Einsamkeit sind der Preis, den Salome entrichten muss, indem sie sich auf teuflisch-destruktive Weise gegen ihren Unterdrücker und ihren Geliebten wendet.

Titovs Inszenierung versucht, diese Figur aus der Rolle als gleichzeitig gruselige und anziehende Phantasmagorie herauszulösen und ein Gefühl für deren menschliche Ambivalenzen zu entwickeln. Dabei ist die seltsam inzestuöse Figurenkonstellation für den modernen Operngast gar nicht so leicht zu verstehen.

Die Oper handelt von Salomes Umgang mit den Annäherungsversuchen ihres Stiefvaters und gleichzeitigen Großonkels Herodes (larmoyant und verbissen: Matthias Wohlbrecht), der von der jungen Frau besessen ist. Am Rande eines Banketts, das in der ziemlich gelungen irgendwo zwischen silikongeschwängerter Promigesellschaft und kinky Party im Kit-Kat-Club inszeniert ist, will Herodes Salome vor den Augen ihrer Mutter Herodias (Karolina Gumos) dazu bringen, für ihn den verführerischen Tanz der sieben Schleier zu tanzen.

Das Stück galt in seiner Entstehungszeit in Wien als derart pervers, dass die in Dresden uraufgeführte Oper dort nicht gezeigt werden konnte. Pervers ist sie nicht nur in ihrer Besessenheit von inzestuösen Konstellationen. Dennoch dreht sich alles um eine Figur, die eine absolute moralische Instanz ist – den Propheten Jochanaan. Doch zu ihm später.

Die Abgründigkeit des Stoffes unterstreicht der Ort, den Strauss/Wilde für die Handlung gewählt haben: Das gesamte Stück spielt in einem Hof, der von Soldaten frequentiert wird, die nicht nur den Palast, sondern auch dessen Kerker bewachen, und der von Titov packend einfach als nackter Machtraum mit matt goldenen, leicht angelaufenen Wänden interpretiert wird.

Mutter Herodias, als ausgepolsterte Matrone mit riesigem Hintern und vollem Busen stilisiert, zitiert die Tochter zurück zum Bankett und muss erleben, wie diese in das Spiel von Verführung, Eroberung und Unterwerfung einsteigt. Die Regie interveniert, indem sich Salome verneunfacht; diese neun silbrig-weißen Amazonen brechen mit einem sublimen Ballett den geilen Blick des Despoten. Dabei ist der Stiefvater/Großonkel Herodes natürlich nicht das einzige männliche Gegenüber der jungen Frau.

Aus dem Kerker unter der Bühne tönt der Bariton Jochanaans. Der Despot kann diesen Mann, dessen Figur an Johannes den Täufer angelehnt ist, zwar einsperren – seine Moral ist jedoch unantastbar. Wen überrascht es da, dass er die einzige Person ist, die Salome lieben kann?

Um diese nicht erwiderte Liebe auf den ersten Blick zu verstehen, muss man wissen, dass Salome eine Frau ist, die um ihre Anziehungskraft auf Männer weiß und davon stärker zehrt, als es auf den ersten Blick scheint. Der Suizid eines ihr verfallenen Soldaten lässt sie nicht mit der Wimper zucken. Jochanaans Verschmähungen um so mehr.

Schnell verführt sie einen Soldaten, damit der den Gefangenen hervorholt. Jochanaans Gleichgültigkeit und Misogynie gegenüber der jungen Frau (»Weich zurück, Tochter Babylons, durch dich kam das Übel in die Welt«) zwingt diese in die Knie (»Dein Leib ist weiß wie die Lilien auf einem Felde, von der Sichel nie berührt), aber der Prophet verschmäht sie, wie sie sich dem Stiefvater mit ihrem kunstvollen Tanz entzogen hat.

Salomes Auflösung dieses Liebesdreiecks ist eines der großen Sujets der Kunstgeschichte. Sie trotzt ihrem Stiefvater für den Tanz der sieben Schleier ein Geschenk ihrer Wahl ab. Dieser rechnet mit einem Edelstein, den er hergeben müsste, er würde aber auch einige Ländereien oder sogar einen Landesteil springen lassen. Salome ist unerbittlich – sie lässt sich als Entgelt für den Tanz Jochanaans Kopf auf dem Silbertablett servieren. Der Prophet muss seine Verschmähung Salomes mit dem Tod bezahlen, der Stiefvater diskreditiert sich durch den Prophetenmord als moralische Instanz, die er als Tetrarch – Herrscher über vier Fürstentümer – zu verkörpern beansprucht.

Die Anziehung, die dieses passiv-aggressive Patt auf Komponisten, Autor und Publikum ausgeübt hat, ist auch bei der Premiere im Schillertheater, dem Ausweichquartier der Komischen Oper, spürbar. Das liegt nicht nur an der Vehemenz des Dirigats vom neuen Chefdirigenten James Gaffigan und an seinem Orchester und an den Sängerinnen und Sängern. Die traditionelle Form der Oper mit Rezitativ und Arie war zu Beginn des 20. Jahrhunderts längst Geschichte, Musik und Gesang laufen in dem 105minütigen Kraftakt durch. Salome ist vom ersten bis zum letzten Takt durchkomponiert, die Spannung reißt in der gesamten Zeit nie ab.

Die Modernität von Strauss’ Komposition liegt auch darin, dass er auf strukturstiftende Elemente wie Punkt und Kontrapunkt, Harmonien oder Akkordfolgen weitgehend verzichtet. Der im ersten Jahrhundert nach Christus in Galiläa verortete gesellschaftliche Kollaps inspiriert zu einer Oper, die in vielerlei Hinsicht in das 20. Jahrhundert weist – zur Zwölf-Ton-Musik von Arnold Schönberg ebenso wie zur nicht abreißenden Gefühlstapete vieler Filmsoundtracks.

Das Publikum bei der Uraufführung in der Komischen Oper im Schiller-Theater interessiert sich allerdings weniger für historische Zusammenhänge, es lässt sich von einer «Salome» mitreißen, in der Rasanz und Makellosigkeit sich gegenseitig befeuern.

Orchester und Ensemble kosten Strauss’ kompositorische Entgrenzung Takt für Takt aus. Der Inszenierung gelingt die Balance zwischen Werktreue, technischer Finesse, Anschluss an zeitgenössische Diskurse und dem erwähnten boulevardesken Humor, den man bei Aufführungen in der Komischen Oper nicht missen möchte.

Nächste Aufführungen: 12., 18., 27. Dezember

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