Warum melden Kommunen zu wenig Wohnungslose?
Interview: Susanne Knütter
Bei Ihrer Hochrechnung sind Sie auf 1.029.000 Wohnungslose im Jahr 2024 gekommen. Ist die Zahl zutreffend?
Wir gehen davon aus, dass sie das Gesamtausmaß der Wohnungslosigkeit ungefähr abbildet.
Wie hoch ist die offizielle Zahl?
Das Statistische Bundesamt gibt Auskunft über die Personen, die institutionell von Kommunen oder freien Trägern der Wohnungsnotfallhilfe untergebracht sind. Und zwar in der Nacht zum 31. Januar. Alle zwei Jahre gibt es außerdem eine begleitende Berichterstattung zu den Teilgruppen, die ganz ohne Unterkunft auf der Straße leben oder verdeckt wohnungslos bei Bekannten oder Familienangehörigen sind. Für 2024 kam der Wohnungslosenbericht der Bundesregierung damit auf 531.600 Personen.
Also gut halb so viele wie die Bag W errechnet hat.
Unsere Zahl ist deutlich höher, weil sie anzeigt, wie viele im Jahr 2024 insgesamt wohnungslos waren, auch wenn es nur ein Tag gewesen ist. Die offizielle Zahl ist eine Stichtagszahl und die ergänzenden Teilstudien wurden nicht überall, sondern an repräsentativ ausgewählten Orten durchgeführt.
Auch Ihre Stichtagszahl liegt noch 229.000 Personen über der Bundesstatistik.
Sowohl in der Statistik des Statistischen Bundesamtes als auch in den Begleitstudien fehlen eine Reihe von Personengruppen, z. B. Gefangene. Es gibt Fälle, in denen die Betroffenen nicht frühzeitig entlassen werden können, weil sie keinen mietrechtlich abgesicherten Wohnraum vorweisen können. Ähnliches gilt für Menschen in Gewaltschutzeinrichtungen oder therapeutischen Einrichtungen. Es gibt eine ganze Reihe von Selbstzahlerinnen in Billigpensionen und Monteurwohnungen, die sich auf eigene Kosten unterbringen, aber in Settings, die nicht mietrechtlich abgesichert sind. Beschäftigte in Containern auf Schlachthöfen sind nicht richtig erfasst. Ebenso Fahrer, die in ihren Lieferwagen, und Frauen, die in den Bordellen schlafen. Personen in Gartenlauben und auf Campingplätzen. Diese ganze Gruppe konnten auch wir nur hochrechnen. Das Kernproblem der Statistik aber ist, dass man nicht alle zählen konnte, die man laut Definition zählen wollte, nämlich die untergebrachten Personen. Das liegt zum Teil daran, dass die Kommunen keine Zahlen oder offensichtlich zu geringe Zahlen übermittelt haben.
Warum melden Kommunen zu wenig Wohnungslose?
Wer sich noch im Asylverfahren befindet, gilt per Definition nicht als wohnungslos und soll damit nicht gezählt werden. Nach Abschluss des Verfahrens gelten sie dann auf einmal als wohnungslos. Die Kommunen, die die Zahlen übermitteln sollen, wissen zwar, wie viele Personen sie untergebracht haben, kennen deren Verfahrensstatus aber nicht. Die Kommunen stehen vor der Wahl: Melden wir alle oder keine? Damit haben wir sehr wahrscheinlich eine Untererfassung bei den anerkannten wohnungslosen Geflüchteten, und das ist ja die größte Gruppe bei uns. Allein in Bayern sind ungefähr 45.000 Personen nicht erfasst.
Es sieht nicht so aus, als würde die Wohnungslosigkeit, wie angekündigt, bis 2030 behoben werden. Liegt das auch daran, dass so viele Nichtdeutsche wohnungslos sind?
Die Zahl der deutschen wohnungslosen Menschen ist auch gestiegen. Wenn auch nicht so rasant wie die der EU- bzw. nicht EU-Bürger unter den Wohnungslosen. Auch da merkt man den Effekt der steigenden Mieten und des unzureichenden Kündigungsschutzes.
Mehr als die Hälfte der Straßenobdachlosen ist aus dem außereuropäischen Ausland.
Ein großes Problem ist, dass Nicht-EU-Bürger bei den Notunterkünften pauschal abgelehnt oder nur für wenige Tage untergebracht werden. Das ist nicht zulässig.
17 Prozent aller Hilfseinrichtungen sind von Kürzungen bedroht oder schon betroffen. Ist das auch ein Anstieg?
Es handelt sich häufig um Fachberatungsstellen, wo sich Menschen hinwenden können, wenn die Räumung bevorsteht oder die Kündigung schon ausgesprochen worden ist. Es sind aber auch niedrigschwellige Angebote, wo man sich tagsüber aufhalten kann.
Warum wird nicht einfach die Sozialbindung verlängert?
Es gibt ja den Anstoß mit der neuen Wohngemeinnützigkeit, dauerhafte Sozialbindung zu schaffen. Das ist auch unsere Forderung, weil der freie Markt, so wie er gerade konzipiert ist, keine bezahlbaren Mieten anbieten kann. Alles, was neu gebaut wird, ist zumindest für wohnungslose Menschen und armutsbedrohte Haushalte kaum zu bezahlen.
Paul Neupert ist Fachreferent für Dokumentation und Statistik bei der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (Bag W)
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