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Aus: Ausgabe vom 06.12.2025, Seite 11 / Feuilleton
Ausstellung

In den besten Familien

Silvia Witte zeigt im Berliner OKK/Raum 29 den »Stammbaum der Krampusse«
Von Lena Reich
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Sei gegrüßt, lieber Nikolaus, der Krampus jagt uns von Haus zu Haus

Nikolaus steht vor der Tür. Millionen von Kindern putzen ihre Stiefel und erwarten mit leuchtenden Augen, was er über Nacht bringen wird. Waren es früher Mandeln, Orangen und Lebkuchen, finden sie heute oftmals Amazon-Game-Gutscheine, Kinderbücher oder gar Schlittschuhe. Nicht mehr fürchten müssen sie dagegen in der Regel die Strafe des Begleiters des Nikolauses, den Krampus. Runzlige Stirn, geschwungene Hörner, Ziegenaugen, grauer Teint – der Krampus sieht aus wie das personifizierte Böse. Im Kunstraum Organ Kritischer Kunst (OKK/Raum 29) in Berlin-Gesundbrunnen ist noch bis zum 14. Dezember die Ausstellung »Masken & Theaterpuppen (2012–2025) / Stammbaum der Krampusse« zu sehen, die sich besonders der Schreckensgestalt widmet.

16 Masken hängen an der Stirnwand der Galerie. Ihre Haut ist grob-wellig. Manche haben Augen, andere sind deformiert. Bei genauer Betrachtung erinnern die Formen eher an überdimensionierte Gehirne oder mutierte Walnüsse. Schöpferin dieser skurrilen Kreaturen ist Silvia Witte. »Der Krampus ist eine mythologische Figur des Erschreckenden«, sagt sie. »Das hat mich interessiert.«

Witte arbeitet mit Ton und Pappmaché und versucht, sich von allzu maskentypischen Formen wie Augen, Nase und Mund zu lösen. Mit einer Mischtechnik aus Encaustikmalerei, Acrylmalerei und Leimfarben gestaltet sie seit rund 15 Jahren Puppen und Masken aus Schaumstoff und Papier. Ein Handwerk, das in Zeiten von 3D-Animationen und Spielzeugindustrie immer weiter in Vergessenheit gerät. Manche von Wittes Werken sind in Filmen und auf deutschen Bühnen zu sehen, etwa im Theaterstück »Dr. Doolittle« bei den Schlossfestspielen Neersen. Den Hund »­Pauli«, eine Ganzkörperklappmaulpuppe, schuf Witte für die René Bauer Media Group in Bayern. Im September 2024 sind »Puppets« von ihr im Rahmen der Berlin Art Week in einer Achterbahn auf dem Hof der Uferstudios gefahren: der alte Wolf und die junge Wölfin, der grüne Hase und eine Gangsterratte. Ein Film auf Wittes Instagram-Kanal zeigt die vier als kunterbunte Künstlergruppe. Unwillkürlich denkt man an die berühmte Muppets-Family von Jim Henson und Frank Oz.

Im Kunstraum OKK starrt eine Krokodilsmaske mit gelben Augen den Besucher an. Dazu kommen ein Rudel Wölfe, eine Grinsekatze, ein Hai und viele kunterbunte Vögel. Ein besonderes Highlight sind die Klappmaulpuppen Héctor und Tuco, für die sich Witte von der Serie »Breaking Bad« inspirieren ließ. Dem kriminellen Onkel und Neffen hat sie das Antlitz von Ratten gegeben, sie tragen Messer und Maschinengewehr. Alle sind spielbar.

Witte nimmt einen schwarzen Kater und steckt ihre Hand in den Puppenkörper. Dann bewegt sie den Kopf. Das Maul geht auf: »Miau!« »Das ist Udo, der unglückliche Kater. Er liebt Poker und Roulette, Tanzen, New York«, lacht Witte, »und Udo Jürgens!« Sie hat eine besondere Beziehung zu ihren Werken. »Die entsteht eigentlich schon beim Bauen. Sobald die Puppe fertig ist, bekommt sie einen Namen. Das passiert ganz unbewusst. Es ist wie eine Geburt.«

Für eine Klappmaulpuppe braucht sie mal wenige Tage, mal mehrere Wochen – abhängig von Design, Kostüm und Funktionalität. Meistens arbeitet sie bis spät in die Nacht, wenn eine Auftragsarbeit wie »der kleine Wolf« fertiggestellt werden muss oder sie im Schaffensrausch ist. »Das ist nicht wie ein Prometheus: Formen, Atem rein und los. Jede Maske und jede Puppe hat ihre eigene Zeit.« An der Krampusmaskenreihe werkelt Witte, die aus einer Handwerksfamilie stammt, seit drei Jahren. »Mit Unterbrechung,« betont die freie Künstlerin, die in unterschiedlichen Theaterprojekten und in Schulen arbeitet. Erstaunlich: Keine der Masken hat Witte zuvor skizziert. »Allein das Material und meine Hände bestimmen, was passiert.«

Im Kunstraum OKK hat Witte die Krampusse an der Wand gruppiert. Ein fünf Generationen umfassender Stammbaum: In der obersten Reihe die Ahnen, nach 1900 geboren. Sie hätten klar menschliche Gesichtszüge, erklärt Witte. »Aber eben Hörner und Dellen.« Ihnen folgt die Kriegsgeneration, die Formen der vorherigen aufnimmt, dafür andere verliert. Manche Masken der dritten Generation haben nur noch ein Horn statt zwei, sind stark verformt. »Hier verliert sich bereits das typisch Maskenhafte.« Witte deutet auf die unterste Reihe – die Zukunft. »Das sind Figuren, die gänzlich ohne menschliche Züge auskommen, dafür haben sie mehr Schellack und harmonierende Farben.«

Die Krampus-Reihe ist auch eine künstlerische Auseinandersetzung mit der Familie als System. Inklusive Outlaw oder Kuckucksei: Am äußersten Rand hängt ein Krampus, dessen Formen so gar nicht zu den anderen passen wollen. »Viele haben in irgendeiner Generation Nachfahren, die der Kernfamilie nicht bekannt sind. Werden sie sich dennoch erkennen?« Witte stellt Fragen: »Was ist Determination, was Zufall? Wie machen sich äußere Umstände wie Weltkriege in den Gesichts- und Charakterzügen bemerkbar? Gibt es doch Formen, die erst verschwunden schienen, um dann, einige Generationen später, plötzlich wieder aufzutauchen?«

Und was passiert eigentlich, wenn sich der Krampus aus der Knechtschaft des Nikolaus befreien will? Seit dem 15. Jahrhundert stapft er durch den alpinen Kulturraum. In bayerischen Dörfern tauchen die Wesen noch immer in langen dunklen Nächten um den 5. und 6. Dezember in Horden auf. Junge Männer, zumeist betrunken. Bei den Puppen und Masken im OKK/Raum 29 sind die Krampusse in besserer Gesellschaft.

»Silvia Witte: Masken & Theaterpuppen (2012–2025) / Stammbaum der Krampusse«, OKK/Raum 29 – Organ kritischer Kunst, Prinzen­allee 29, 13359 Berlin, bis 14. Dezember 2025.

6. Dezember 2025, 21 Uhr, »Nach der Natur: Krampus und die neuen Machttechniken«, Maskenperformance von skully*.

13. Dezember 2025, 18 Uhr, »Play with my puppets«, offene Puppenbühne

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