Bombenjahre in Südtirol
Von Ronald Kohl
In der Nacht vom 11. auf den 12. Juni 1961 wird Paul (Thomas Prenn) von mehreren heftigen Explosionen aus dem Schlaf gerissen. Nur mit einer Pyjamahose und einem Unterhemd bekleidet, verlässt er schlaftrunken die Kammer in dem Südtiroler Bauernhaus und geht hinaus ins Freie. Weitere Explosionen folgen, hallen durch die Dunkelheit des weitläufigen Tals. »Haben wir dich geweckt?« Pauls Bruder Anton (Laurence Rupp) stellt die Frage halb belustigt, halb vorwurfsvoll. Als er das Entsetzen seines jüngeren Bruders bemerkt, packt er noch einen drauf: »Heute Nacht scheißen sie in Mailand im Finstern.«
»Zweitland«, das Spielfilmdebüt des aus Südtirol stammenden Drehbuchautors und Regisseurs Michael Kofler, ist ein Familiendrama, das seine zunehmend unkontrollierbare Dynamik dem zeitgeschichtlichen Hintergrund verdankt, den Anschlägen einer separatistischen Organisation, die sich Befreiungsausschuss Südtirol (BAS) nannte und während der 1960er Jahre reihenweise Bombenanschläge verübte. Dass es für diese Aktionen Gründe gab, stellt der Film keineswegs in Abrede; schon in einer der ersten Szenen erleben wir die systematisch ungerechte Behandlung der deutschsprachigen Minderheit seitens der damals ausschließlich mit italienischen Muttersprachlern besetzten Behörden. Und auch die auf die »Feuernacht« folgende Reaktion des Stiefelstaates wird von Kofler entsprechend der historisch belegten Tatsachen dargestellt; es kam zu Massenverhaftungen und schweren, in zwei Fällen sogar tödlichen Misshandlungen durch die Carabinieri.
Anton, der als erstgeborener Sohn die Landwirtschaft der verstorbenen Eltern übernommen hat, kann dank Pauls Warnung in letzter Minute entkommen. Seine Frau Anna (Aenne Schwarz) und den sieben Jahre alten Sohn Thomas lässt er auf dem Hof zurück. Dem jüngeren Bruder Paul hat er noch eilig die Mistgabel in die Hand gedrückt. Doch Paul sperrte sich. Nicht nur, weil er den radikalen Kurs der Separatisten ablehnt; es hatte bei den Anschlägen einen unbeteiligten Toten gegeben. Paul sträubt sich überhaupt, Verantwortung zu übernehmen: weder für den Hof noch für die politische Hitzköpfigkeit seines Bruders. Es ist die erste Zerreißprobe für die Familie.
Die »Bombenjahre« von 1956 bis 1969, wie sie in Südtirol noch immer genannt werden, waren lange Zeit danach auch im Privaten ein Tabuthema. Regisseur Kofler sieht den Grund dafür weniger in den strafrechtlichen Konsequenzen, sondern vielmehr in der kollektiven Empfindung erfahrener Ungerechtigkeit: »Die Narben waren noch vorhanden.« Und in der Schule? »Im Geschichtsunterricht der 90er wurde die Gewalteskalation nicht wirklich thematisiert.«
Das Wissen, dass es da irgend etwas Unausgesprochenes gab, weckte die Neugierde vieler Heranwachsender. Mittlerweile existieren zahllose Publikationen und Dokus zum BAS. Häufig anzutreffen ist die These, dass zwar die Anschläge auf Strommasten usw. an sich nicht viel genutzt hätten, dass aber die internationalen Reaktionen auf die Menschenrechtsverletzungen und die Misshandlungen in den Gefängnissen Rom in Bedrängnis brachten. Michael Kofler möchte dem nicht ausdrücklich widersprechen. Doch die Geschichte, die er erzählt, stellt ein Familienleben in den Vordergrund, das durch die politischen Ereignisse zunehmend aus den Fugen gerät.
Paul hatte sich dann doch breitschlagen lassen, auf dem Hof des Bruders zu bleiben. Ausschlaggebend war das Bitten seiner Schwägerin Anna gewesen. Trotz der unruhigen Zeiten gelingt es Paul und Anna recht lange, die Wirtschaft weiterzuführen. Doch gerade Anna lässt infolge der vielen Anfeindungen Federn. Als besonders verhängnisvoll erweist es sich für sie, dass sie als Dorfschullehrerin eine Vision hat: die Zweisprachigkeit als Ausweg aus der dörflichen Enge, als Chance für die Kinder. Damit gerät sie zwischen alle Fronten, während ihr untergetauchter Mann immer tiefer in einen ländlich-religiös geprägten terroristischen Strudel gerät. Das hört sich folkloristisch an, doch alle Bemühungen seiner Familie, vielleicht doch noch den Kreislauf der Gewalt zu durchbrechen, sind spätestens ab jetzt absolut aussichtslos.
Michael Kofler beschreibt das Südtirol von heute als vollkommen befriedete Region. Zu den damaligen Ereignissen sagt er: »Der Einsatz von Gewalt entwickelt immer eine Eigendynamik. Und er führt immer zu Verwerfungen, die noch über Generationen spürbar sind.« Es hört nie auf? »Die Gefahr besteht leider, aber gerade die Entwicklung Südtirols ist lebender Beweis dafür, dass Dialog und diplomatische Bemühungen ein Ausweg aus der Gewaltspirale sind.«
Hinzufügen möchte man, dass in Südtirol auch die Akzeptanz der Sprache der »Anderen« zum friedlichen Miteinander gehört. Der Kampf darum erwies sich für Anna im Film noch als verhängnisvoll. Heute wird an der Universität in Bozen auf deutsch und italienisch gelehrt. Und natürlich auf englisch.
»Zweitland«, Regie: Michael Kofler, BRD 2025, 112 Min., Kinostart: heute
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