Die heilige Hannah der Politjournalisten
Von Marc Püschel
Wer über Hannah Arendt schreibt, kommt um Martin Heidegger nicht herum. Im Alter von 18 Jahren begann die 1906 geborene Studentin in Marburg eine Affäre mit ihm, ihrem Philosophieprofessor. Für den Denker aus dem Schwarzwald war es eine Affäre unter mehreren, Arendt wird sie ihr Leben lang prägen. Dennoch blieb sie nur drei Semester in Marburg und ging dann zu Karl Jaspers nach Heidelberg, bei dem sie promovierte und der bis zu seinem Tod 1969 ihr wichtigster philosophischer Gesprächspartner blieb.
Lange Zeit eher indifferent, politisierte sich Arendt erst im Angesicht der unmittelbar drohenden Nazidiktatur. Nach einer kurzen Gestapohaft im Juli 1933 emigrierte sie nach Paris. Dort traf sie den charismatischen (Noch-)Kommunisten Heinrich Blücher, der ihr Marx und Brecht nahebrachte und den sie 1940 heiratete. Die beiden wurden durch das berühmte Visaprogramm des US-Amerikaners Varian Fry gerettet. Bei der Flucht über Spanien hatten sie mehr Glück als Walter Benjamin, der Arendt ein paar Tage vor seinem Suizid im spanischen Grenzort Portbou noch das Manuskript mit seinen berühmten Thesen »Über den Begriff der Geschichte« mitgab.
Kaum weniger rasch als hier wird Arendts Leben in der neuen Biographie des Journalisten Willi Winkler erzählt. Weimarer Republik, Faschismus, Flucht, Exil in den USA, Weltkrieg und Rückkehr nach Deutschland, all das ist bereits nach 70 Seiten abgehakt. Winkler schreibt flott, stilistisch elegant und mit profunden Kenntnissen von Arendts Korrespondenz. Heimisch scheint er sich jedoch vor allem in der BRD-Geschichte zu fühlen, denn richtig ausführlich wird die Biographie erst mit der Beschreibung der Rezeption des 1951 erschienenen Werks »The Origins of Totalitarianism« (dt. Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft), das die Autorin schlagartig berühmt machte. Dass Arendts Erfolg ein subventionierter war, unterschlägt Winkler nicht: Als »Teil der psychologischen Kriegführung« im Kalten Krieg wurde die 1955 in der Europäischen Verlagsanstalt erscheinende deutsche Ausgabe »von einschlägiger Seite«, das heißt der CIA, bezuschusst.
Auch an anderen Stellen schont Winkler seine Protagonistin nicht. In bezug auf ihre Rolle als Berichterstatterin im Eichmann-Prozess 1961 resümiert er kühl: »Hannah Arendt war sicherlich die schlechteste Reporterin, die je ein Gericht betreten hat. Sie erscheint in Jerusalem übermüdet, voller Ressentiments, zeigt kein Interesse an den unzähligen Details.« Ihre Reportage mit der berühmten Phrase »Banalität des Bösen« im Untertitel wird dennoch breit rezipiert, stößt aber nicht überall auf Wohlwollen. Etliche jüdische Gemeinden sehen es sogar als Verrat, dass sie die Kollaborationen von Judenräten mit den Nazis anspricht.
Auch sonst war die Kettenraucherin unangepasst in alle Richtungen, hegte große Sympathie für Rosa Luxemburg und kritisierte die Notstandsgesetze in der BRD. Mit der Wahl des ehemaligen NSDAP-Mitglieds Kurt Georg Kiesinger zum Bundeskanzler sah sie das Ende der Demokratie in der BRD gekommen. Mit der möglichen neuen Heimat Israel konnte die jüdische Intellektuelle gleichfalls nichts anfangen, Politiker des jungen Staates wie Menachem Begin kritisierte sie scharf. Auch an ihrer Wahlheimat USA fand sie manches zu attackieren, etwa den McCarthyismus. In anderer Hinsicht fielen ihre Urteile fragwürdiger aus. Als 1957 US-Präsident Eisenhower das Militär einsetzte, um in der Stadt Little Rock in Arkansas die Aufhebung der Rassentrennung an Schulen durchzusetzen, kritisierte Arendt nur den Eingriff Washingtons in die Rechte der Bundesstaaten und verteidigte damit die Rassentrennung an den Schulen. Während sie in jedem starken Zentralstaat bereits den Keim zum Totalitarismus angelegt sah, war ihr politisches Ideal die antike Polis mit ihren überschaubaren öffentlichen Diskussionen und direkter Demokratie – weswegen sie überraschenderweise sogar an dem Gedanken einer Räterepublik Gefallen fand. Wenn die Phrase nicht so ausgelutscht wäre, könnte man sagen: Sie saß zwischen allen Stühlen.
Winkler stellt das alles nüchtern dar und verweigert sich einer Idealisierung Arendts, die aufgrund leicht einprägsamer politischer Urteile zu einer »Lieferantin von Kalendersprüchen«, zur »heiligen Hannah der Festredner und Kolumnistinnen« wurde. Dass sie das bleibt, besorgt Winkler gleich mit. Die konkreten Inhalte ihrer Werke – die Dissertation zum »Liebesbegriff bei Augustin«, das Totalitarismusbuch, das philosophische Hauptwerk »Vita activa« und das Spätwerk »Über die Revolution« – werden von ihm an keiner einzigen Stelle besprochen. Eine Biographie, die vergleichbares Desinteresse an dem Denken der porträtierten Person zeigt, ist mir nicht bekannt.
Dafür geht es immer wieder um Heidegger. An dem Philosophen, der die Naziherrschaft euphorisch begrüßte, nach dem Weltkrieg Reue spielte und doch wenig einsah, hing Arendt ihr Leben lang. Immer wieder fand sie dafür Ausflüchte: Der Antisemitismus habe bei ihm »keine Rolle gespielt«. Von Heideggers berüchtigten Schwarzen Heften erfuhr sie zeitlebens nichts. In Frontstellung gegen die Kritische Theorie und besonders Adorno – für Arendt »einer der widerlichsten Menschen, die ich kenne« – interpretierte sie Walter Benjamin zu einem Heideggerianer um und versuchte auch sonst nicht wenig, um ihren Geliebten zu rehabilitieren. Zu dessen 80. Geburtstag griff sie 1969 eine Zeile aus Friedrich Schillers »Wallenstein« auf, um die ambivalente Rezeption poetisch zu umschreiben: »Von der Parteien Gunst und Hass verwirrt / Schwankt sein Charakterbild in der Geschichte.« Das hätte sie auch über sich schreiben können.
Willi Winkler: Hannah Arendt. Ein Leben. Rowohlt-Verlag, Berlin 2025, 512 Seiten, 32 Euro
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