Sie kommen nicht wegen der Musik
Von Frank Schäfer
Die Gruppe Motörhead wurde 1975 in London von Lemmy Kilmister gegründet. Frank Schäfer geht in der Serie »50 Jahre Motörhead – die schlechteste Band der Welt« dem sehr lauten Rock-’n’-Roll-Phänomen auf den Grund.
Dass Motörhead endgültig im Mainstream angekommen sind, lässt sich gewissermaßen auf den Tag genau festlegen – als nämlich 2004 der damalige VW-Designchef bei einem Sommerfest der Abteilung seinen Sohn aus dem Buggy hebt und damit die Belegschaft verzückt, denn der Kleine trägt ein niedliches Shirt mit dem »War Pig« vorn drauf. Natürlich hat dieser modebewusste Mensch noch nie ein Album von Motörhead durchgehört, geschweige denn, dass er jemals ein Konzert besucht hätte, aber er weiß trotzdem genau, was gespielt wird, und muss sich auch keine Umstände mehr machen für diesen kleinen Spaß – Bekleidungsdiscounter wie H & M oder C & A bieten mittlerweile Motörhead-T-Shirts in allen Größen.
Das ist selbstverständlich nicht der einzige Indikator. Es gibt eine ganze Reihe solcher Signale, die sich jetzt Anfang der 2000er verdichten. Zunächst mal erscheint im Winter 2002 »Lemmy – In His Own Words«, eine nach den erwartbaren Sachthemen wie »Sex« oder »Drugs« geordnete Zitatesammlung, die ihn als geistesgegenwärtigen, durchaus komischen Gesprächspartner zeigt; und bald darauf kommt dann auch Lemmys seit Jahren in diversen Interviews angekündigte Autobiographie heraus. Sie wird ein Bestseller, obwohl die Kritik mit ihr recht scharf verfährt, zumal die englische Presse. »Mit zwei Dosen Buchstabensuppe, einer Handvoll Abführtabletten sowie einer guten Nacht Schlaf hätte man ein besseres Buch als ›White Line Fever‹ SCHEISSEN können«, schimpft Kerrang!.
Immerhin, diese beiden Publikationen überzeugen die Eggheads aus dem Bildungsbürgertum davon, dass man sich mit Motörhead beschäftigen kann, ohne einen irreparablen Reputationsverlust zu erleiden. Im Gegenteil, vielleicht lässt sich sogar ein kleiner Distinktionsgewinn damit erzielen. Lemmy hat das durchaus erkannt und achselzuckend hingenommen. In einem langen Interview der Süddeutschen Zeitung fragt der zumindest in der Motörhead-Philologie ziemlich unbeleckte Moritz von Uslar an einer Stelle, ob zu viele Intellektuelle Motörhead-Konzerte besuchen. Lemmy: »Woran erkenne ich einen Intellektuellen? Sie kommen nicht wegen der Musik, sie leihen sich einen Teil meiner Haltung. Runter in den Krach, den Schmutz, den Krieg, weil ihre Gedanken so hochtrabend sind.«
Doch damit hören die Inkorporationsversuche der Konsenskultur noch lange nicht auf. Harald Schmidt lädt die Band in seine populäre Late-Night-Show ein, wo sie live und mit voller Backline »Shut Your Mouth« performen. Sie bekommen im Herbst 2003 ihren Stern auf dem Hollywood Rock Walk of Fame und spielen im Februar darauf unter dem Rubrum »Motörhead – A Night at the Opera« im Londoner Royal Opera House, das normalerweise der E-Kultur vorbehalten ist.
Das Bemerkenswerte an dieser Umarmung ist der Umstand, dass sie nicht, wie so oft, mit einer Domestizierung einhergeht. Motörhead bleiben sie selbst. Lemmy hat nichts gegen Anerkennung vom bürgerlichen Mainstream, allerdings nur zu seinen Bedingungen. Selbst als er im Walisischen Parlament in Cardiff eine Rede hält und die Drogenpolitik des Landes ins Visier nimmt, trägt er seine weißen Cowboystiefel und den mit Conchas bewehrten Stetson, vor allem sagt er Sätze, die zumindest konservative Volksvertreter nicht so einfach gutheißen können.
Im Grunde ist diese Einladung ein gut gemeintes Missverständnis. Die Statistiken zeigen seit Jahren eine ansteigende Drogenkriminalität für Wales. Es besteht Handlungsbedarf. William Graham, Abgeordneter der Tories im Repräsentantenhaus, hat zufällig die Motörhead-Dokumentation »Live Fast Die Old« gesehen, in der sich Lemmy einmal mehr wortreich als Heroin-Gegner zu erkennen gibt. Er kommt nun auf die hübsche Idee, Lemmy als Gastredner einzuladen. Eine Warnung von einer dopegestählten Ikone wie Lemmy zur besten Sendezeit, vom BBC in alle Wohnzimmer ausgestrahlt, glaubt er, müsste größere Wirkung zeitigen als die üblichen Appelle und Verbote. Graham überzeugt seine Partei, die Einladung geht raus – und so spaziert am Nachmittag des 3. Novembers 2005 ein Mann in vollem Rocker-Ornat ins Parlament und plädiert, zum Erschrecken Grahams und seiner Parteifreunde, für eine staatlich kontrollierte Legalisierung der Droge. Denn nur dadurch, so seine Argumentation, könne man der Beschaffungskriminalität Einhalt gebieten, zum Schutz der Junkies für die einheitliche Qualität der Droge sorgen und letztlich sogar Steuereinnahmen generieren. Und nur so bekomme man die Süchtlinge dazu, sich registrieren zu lassen, eine notwendige Voraussetzung für konkrete, individuelle Hilfsangebote. Graham ist entsetzt, aber schließlich hat er ihn eingeladen, folglich lässt er Lemmys Vorschlag eine höfliche, aber auch unmissverständliche Distanzierung folgen. Am selben Abend stehen Motörhead in Cardiff auf der Bühne, und hier in seinem vertrauten Biotop besitzt Lemmy deutlich mehr Überzeugungskraft.
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