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Aus: Ausgabe vom 21.11.2025, Seite 11 / Feuilleton
Literatur

Auf Sand gebaut

Wenn die Erinnerung an die Vergangenheit der Zukunft im Weg steht, wird Schweigen verordnet: Kamel Daouds preisgekrönter Roman »Huris«
Von Patrick Hönig
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Wider das Vergessen: Der algerische Journalist und Autor Kamel Daoud

Der algerische Bürgerkrieg, der von den frühen 1990er Jahren bis in die nuller Jahre wütete, soll heute keine Erwähnung mehr finden. Zumindest wenn es nach der Regierung in Algier geht. Die Concorde ­civile, das Gesetz zur nationalen Eintracht, sieht vor, dass straffrei ausgeht, wer der bewaffneten Gewalt abgeschworen und nicht selbst schwere Verbrechen begangen hat. Doch die vorsichtig geschätzt 200.000 Opfer des Bürgerkriegs lassen sich nicht einfach aus dem kollektiven Gedächtnis streichen. Kamel Daouds Roman »Huris« legt den Finger in die Wunde einer Gesellschaft, die den Krieg nicht mehr will, aber auch keinen Frieden findet.

Im Zentrum der Handlung steht die junge Aube, die bei einem Massaker ihre gesamte Familie verloren hat und selbst schwer verletzt wurde. Damals war sie fünf, von heute auf morgen eine Waise, zusammengeflickt, die Stimmbänder durchschnitten. Zwanzig Jahre später versucht sie in Oran, der zweitgrößten Stadt des Landes, eine Existenz aufzubauen. Aber ihr Friseursalon wird von Islamisten verwüstet, und ungewollt schwanger ist sie auch, von einem Mann, der sie verlässt, um ein Boot nach Europa zu besteigen. Am Tag des Opferfests setzt sie sich in ihren Kleinwagen und bricht nach Had Chekala auf, das Dorf, in dem ihre Familie ermordet wurde. Der Ort, an dem ihr altes Leben begraben liegt, soll ihr die Kraft geben, die Schwangerschaft zu beenden. Was folgt, ist eine Reise durch ein Land im Stillstand, voller Rätsel und Gefahren.

Die Kapitel sind kurz, wie der Abschnitt der Autobahn zwischen zwei Ausfahrten. Aube wird überfallen und gedemütigt, aber allein und barfuß auf der Straße begegnet sie Menschen, die sich ihr öffnen und Geschichten erzählen, die sich einprägen, »wie eine Zeitung ums Herz gewickelt«. Da ist der Buchhändler, der sie von der Straße aufliest. Zur Zeit des Bürgerkriegs ist er in einen Hinterhalt der Islamisten geraten und angeschossen worden. Um ihn herum liegen abgeschlagene Köpfe. Man lässt ihn gehen, damit er von dem, was er gesehen hat, berichtet. Die Straße ist seine Rettung und sein Fluch, abends rollt sie sich ein unter dem Tisch »wie eine Schlange« und wartet bis zum Morgen, dann wird sie zu einer »Bestie, die sich in fettigem Pelz- und Uringeruch versteckt, Fleisch frisst und an Knochen saugt«. Eine Schlange ist auch die Sprache, zusammengerollt liegt sie da, der Kopf zugleich der Schwanz, und es wiederholen sich die Sätze.

Aube begegnet dem Imam ihres Dorfes, der sich Bücher mit Goldschnitt leisten kann, weil er eine lukrative Metzgerei betreibt, von der man munkelt, sie verkaufe Eselfleisch. Von den Kindern wird sie für eine Journalistin gehalten, die gekommen ist, um über das Unglück zu berichten, das über das Dorf hereingebrochen ist. Zu den eindringlichsten Passagen zählt das Gespräch, das sie mit Hamra führt, einer Frau, die im Bürgerkrieg von den Islamisten in die Berge entführt und zwangsverheiratet wurde. Sie kann fliehen, aber niemand will mehr etwas mit ihr zu tun haben. Oder mit ihrer Tochter, die sie noch auf der Flucht gebar, unter einem nächtlichen Himmel, so »schön wie ein viel zu teurer, funkelnder Stoff in einem Schaufenster in der Großstadt«. Jetzt ist ihr Leben vorbei, und das Vergessen spannt sich »wie ein Tuch über meinem Bauch, wie eine Gnade, wie der Himmel«. Ich bin »El Irhabiya«, sagt sie, »die Terroristin«.

Was klingt wie Poesie, ist politisch brisant, und immer wieder behandelt das Buch Fragen von Bedeutung weit über Algerien hinaus. Wann beginnt ein bewaffneter Konflikt, wann endet er? Wie stellt man fest, wer gesiegt hat und wer besiegt ist? Was ist ein Frieden wert, der ohne Aufarbeitung des Geschehenen auskommt? Der Autor enthält sich einer Bewertung, lässt statt dessen die Protagonisten zu Wort kommen, jeder in seiner eigenen Art und Ausdrucksweise. Und natürlich ist der Boden schwankend, wenn man sich auf das Erlebte beruft, denn eine Erinnerung ist, wie Aube erläutert, »immer auf Wasser, auf Sand gebaut, auf Stoffe, die sich verändern und entziehen«. Was aber in der Zusammenschau der Geschichten deutlich wird, ist die Unvereinbarkeit der vertretenen Positionen und die Verhärtung des Diskurses. Nichts wird wieder gut, wenn man alte Wunden aufreißt, und doch gibt es ohne Wahrheit keine Versöhnung.

Die Schrecken eines Krieges, dessen Folgen die Gesellschaft spalten, werden in diesem Buch schonungslos aufgedeckt, aber natürlich darf man fragen, was die Kraft des Erzählens am Ende ausrichten kann. Denn der zärtliche Ton, mit dem Aube die Unterhaltung mit dem »Böhnchen« in ihrem Bauch führt, ändert nichts an der Bitterkeit, die eine Frau empfinden muss, wenn sie riskiert, für eine Abtreibung lebenslang ins Gefängnis zu gehen, während den Männern Straffreiheit in Aussicht gestellt wird, solange sie behaupten, sie hätten im Untergrund nur für die Suppenküche Verantwortung getragen und mit den Gemetzeln der Islamisten nichts zu tun gehabt. Auch bleiben die Ursachen für den Bürgerkrieg im dunkeln, die Gegner sind schwarz-weiß, als habe es nur die »Tangos« gegeben, die »Schächter«, die »Bärtigen«, und auf der anderen Seite die »Charlies«, das Militär. Und der Unabhängigkeitskrieg gegen das französische Kolonialregime, von dem Aube meint, er sei den Menschen in Algerien im Bewusstsein, weil so viele Viertel in den Städten die Namen der »Märtyrer« tragen, ist in seinen Auswirkungen vielleicht ebenso verdrängt worden wie der Bürgerkrieg dreißig Jahre später.

Der Psychiater Frantz Fanon schrieb seinerzeit, man müsse die Frauen nicht fragen, was sie durchgemacht hätten, wenn sie vom französischen Militär verschleppt wurden und nach acht Tagen wieder nach Hause kamen. Auch nicht die Männer, wenn sie wieder auftauchten, »mit einem Körper voller Striemen«. Aber glaubte er wirklich, dass die »Zerstückelung der algerischen Familie« Solidarität hervorbringen werde, die »mächtigste Festung der Revolution«? Eine blutleere Kultur der Denkmäler setzt keinen Heilungsprozess in Gang, sondern trägt das Schweigen von einer Generation in die nächste. Eine Ahnung davon gibt der Imam, wenn er von seinem Vater spricht, der seine Söhne nicht wahrnahm, weil er in der Vergangenheit lebte, »in der Zeit unter Frankreich, gegen das er gekämpft hatte«.

Der Schriftsteller und Journalist Daoud, der für diesen Roman, seinen zweiten, im vorigen Jahr den Prix Goncourt erhalten hat, lebt im Exil in Paris. In seiner Heimat Algerien droht ihm Gefängnis. Sein Freund Boualem Sansal wurde in einem aufsehenerregenden Prozess in Algier zu fünf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Das PEN-Zentrum Deutschland und der PEN Berlin meinten, das Verfahren sei politisch motiviert, und setzten sich für seine Freilassung ein. Sansal ist in diesen Tagen begnadigt und nach Deutschland ausgeflogen worden. Und Aube? Lange genug ist sie dem Leben davongelaufen, um »am menschenleeren Strand Muscheln zu sammeln, die dem Meer aus der Tasche fielen«. Doch am Ende der Reise steht sie auf, befreit sich von den Fesseln ihrer Vergangenheit und trifft eine Entscheidung.

Kamel Daoud: Huris. Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2025, 398 Seiten, 28 Euro

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