»Ich schlaf da einfach ein«
Von Kai Köhler
Konzerte mit klassischer Musik laufen zumeist nach einem strengen Ritual ab: Auftritt der Musiker, erster Applaus. Dann wird auf einer Bühne musiziert, gegenüber hört das meist einigermaßen ruhige Publikum zu, danach wieder Applaus und Verbeugung. In den Saalreihen sind schon seit langem die Älteren in der Überzahl, mehr noch als in der Oper. Zwar rücken immer wieder diejenigen nach, die nicht mehr durch Beruf und Familie belastet sind – aber wie viele der künftigen Rentner können sich die oft stattlichen Eintrittspreise noch leisten? Und mit welchen Argumenten treten Konzerthäuser und Festivals nun im Hauen und Stechen ums verknappte Staatsgeld auf?
Unter dem Namen »tuned« fördert die Kulturstiftung des Bundes ein »Netzwerk für zeitgenössische Klassik«. In diesem Rahmen trafen sich vom 10. bis 12. November Musiker, Intendanten und Musikvermittler in Bochum zu einem dreitägigen »Ideenfestival«. Dort ging es darum, so die Veranstalter, »wie wir die Zukunft der Klassik gemeinsam gestalten können«. Gekommen waren diejenigen aus dem Klassikbetrieb, die nicht am Ist-Zustand hängen. Sie suchten nicht nach Ideen, wie das Bestehende besser zu begründen und zu verteidigen sei. Vielmehr sahen sie die Krise als Möglichkeit, neue Konzertformen zu entwickeln und überhaupt die gesellschaftliche Bedeutung der klassischen Musik neu zu bestimmen.
Folkert Uhde hatte bereits zum Neustart nach den Covid-19-Schließungen einen »New Deal« für die Klassik verlangt. Er sah noch keinen Aufbruch, die Beharrungskräfte hätten sich als stark erwiesen. Doch erneuerte er seine Forderung, radikal umzudenken. Klassische Musik müsse zum Verständigungsmedium einer neuen Mitte werden und Begegnungen ermöglichen, die in der Gesellschaft sonst nicht stattfinden. Dafür müsse sie sich neue Räume erschließen – Orte, an denen Menschen wieder zusammenkämen. Statt um musikalische Exzellenz solle es darum gehen, was für die lokale oder regionale Identität wichtig sei. Das betreffe auch Konzertformate: »Ich hab keine Lust mehr, mich abends um acht ins Konzert zu setzen, ich schlaf da einfach ein« – dieser Satz bekam spontan Applaus, immerhin von einem Fachpublikum.
Der Vorschlag in diesem Zusammenhang, am frühen Abend kurze Programme anzubieten für Leute, die gerade von der Arbeit kommen, ist sinnvoll und wird auch mancherorts schon erfolgreich erprobt. Doch zeigen Aussage und Reaktion ein grundsätzlicheres Unwohlsein. Aus London war Toks Dada angereist, Head of Classical Music am Londoner Southbank Centre. Als Chance stellte er ein »cross programming« vor: »packages« über verschiedene musikalische Genres hinweg und sogar über verschiedene Künste, die an seiner Institution vertreten sind. Zu den vier renommierten Ensembles des Southbank Centre kamen zwei weitere, darunter das ethnisch mehrheitlich nichtweiße »Chineke! Orchestra«. Das alles klang zu schön, und auf Nachfrage bestätigte Dada die Befürchtung, dass es dafür kein zusätzliches Geld gibt. Das Neue geht auf Kosten des Alten, wo nun die Ressourcen fehlen. In neoliberaler Manier verklärte Dada das unwidersprochen zum »Wettbewerb«, der allen Beteiligten »Chancen« biete.
Junge Musiker sollen aus seiner Sicht nicht einfach nur gut Musik spielen, sondern sich zu »performance creators« qualifizieren. Das passte zum Reisebericht von Steven Walter, der über das US-Musikleben berichtete. Dort packten die Leute noch an, und ein berühmter Cellist betreibt nicht nur nebenbei ein eigenes Weingut, sondern zudem ein erfolgreiches Modelabel.
Zwar verschwieg Walter nicht, dass dies keine Lösung für alle ist und viele US-Künstler ins Elend abrutschen. Er verdeutlichte auch, dass eine vor allem private Finanzierung von Musik mancherorts zu paradiesischen Inseln und vielerorts zu kultureller Wüste führt. Doch ging es ihm darum, was man in Deutschland von den USA lernen könne. Das Konzert werde als soziales Event inszeniert. Musik hören könne man dank neuer Technik überall – US-Konzerthäuser böten mit Empfang, Räumlichkeit und Gastronomie ein Gesamterlebnis. Das Los Angeles Philharmonic Orchestra beschäftige einen Chief Hospitality Manager mit vier Mitarbeitern. Und auch Walter schlug vor, wie in den USA die Grenze zu anderen Musikgenres durchlässiger zu machen.
Überhaupt entstand der Verdacht, die Zukunft der klassischen Musik bestehe darin, sie im Ganzen der Musik überhaupt und in anderen Künsten aufzulösen. Konzerte sind dann entweder der Anlass à la USA, von dienstbaren Geistern unterstützt gepflegt zu tafeln; oder sie bestehen vor aktuellen politischen Ansprüchen, insofern Werke von Komponistinnen oder Vertretern ethnischer Minderheiten aufgeführt werden (zu beiden Aspekten gab es Panels). Natürlich ist eine Erweiterung des Repertoires zu begrüßen. Aber die Folgen jahrhundertelanger Unterdrückung lassen sich nicht rückgängig machen, und so werden Kompositionen weißer Männer noch auf längere Sicht die Konzertprogramme bestimmen.
Oder lässt sich das Publikum aktivieren? Ergebnisse, die auf dem Ideenfestival vorgestellt wurden, deuten an, dass die Mitmacher vom Mitmachen begeistert waren, aber voll Konzentration auf ihren Einsatz vom Rest der Musik wenig mitbekamen. Wahrscheinlich stimmt es, was in diesem Panel allzu kurz erwogen wurde: dass bereits intensives Hören eine Aktivität ist. Vielleicht rettet man die Konzertform, indem man sie auf jede Weise zum umfassenden Erlebnis weitet. Darunter aber leidet, worauf es gesellschaftlich ankommt: die Konzentration auf das musikalische Werk und auf genau jene Welt, die es bezeichnet. Wahrscheinlich sind bestehende Konzertrituale kein historischer Zufall.
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