Entlarvende Ehrlichkeit
Erst beleidigte Kanzler Friedrich Merz Millionen Bürger mit seiner »Stadtbild«-Äußerung. Nun brachte er Millionen Brasilianer durch abfällige Aussagen über die Stadt Belém gegen sich auf: »… waren alle froh, dass wir … von diesem Ort, an dem wir da waren … wieder nach Deutschland zurückgekehrt sind«.
»Bereichernd wie ein Fußpilz«, nennt die Süddeutsche Zeitung solche unprovoziert von Merz losgestoßenen Debatten. »Kanzler sind halt auch nur einfache Bürger aus Oggersheim und Arnsberg, denen manchmal rausrutscht, was seit wann auch immer in ihnen drin ist«, so die Banalität der SZ, die keinen »dringenden Bedarf« an einem Kanzler sieht, »der solange in Ausbildung bleibt wie einst Kohl«. Soviel Zeit wie sein schwergewichtiger Vorgänger dürfte Merz, dem es schwerfallen wird, auch nur eine Legislatur durchzuhalten, auch nicht haben.
Die Welt leidet darunter, dass nun Brasiliens Präsident Lula da Silva den Kanzler »unter dem Gejohle seiner Anhänger am Nasenring durch die Arena zieht«. Merz habe das »seltene Kunststück fertiggebracht, sowohl bei der brasilianischen Linken als auch in Teilen der argentinischen Libertären unten durchzusein«, erinnert das Blatt daran, dass Merz bereits den argentinischen Präsidenten Javier Milei brüskiert hatte. »Und das ist nicht gut für Deutschland« – soll heißen, fürs deutsche Kapital, das auch in Lateinamerika gegenüber chinesischer Konkurrenz ins Hintertreffen gerät.
Merz »müsse endlich staatsmännischer auftreten und wissen, welches Gewicht seine Worte als deutscher Regierungschef besitzen«, meint T-Online-Kommentatorin Nilofar Breuer. Wo sich die Kollegen der bürgerlichen Presse um das Ansehen Deutschlands sorgen, freut sich die junge Welt über so viel entlarvende Ehrlichkeit des früheren Black-Rock-Managers mit Privatjet, der gar nicht erst versucht, das von ihm repräsentierte egoistische Interesse der besitzenden Klasse hinter staatsmännischer Maske zu verbergen.
Bekannt wurden Merz’ Belém-Äußerungen in Brasilien durch eine Übersetzung der Deutschen Welle. »Da kommt der alte neokoloniale Blick in Spiel: Stunden in einer mehr oder weniger armen Amazonasstadt mit einer deutschen Phantasie von Ordnung und Perfektion zu vergleichen, ohne Kontext, Geschichte oder die Gründe der Ungleichheit zu verstehen«, fand deren Kolumnist Philipp Lichterbeck die richtigen Worte.
Als der Kanzler am Mittwoch in Berlin ausgerechnet zur Verleihung des Talisman-Preises für gesellschaftlichen Zusammenhalt der Deutschlandstiftung Integration die Bühne betrat, leerte sich der Saal. »Wir sind das Stadtbild« hieß es auf Stickern der ausziehenden Stipendiaten, viele davon mit Migrationsgeschichte. (nb)
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